GENNADIJ BORDJUGOW

Wehrmacht und Rote Armee -Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung

CHARAKTER, GRUNDLAGEN UND BEWUßTSEIN VON MENSCHEN UNTER KRIEGSBEDINGUNGEN

Winter 1941. Trotz der Niederlage in der Schlacht bei Moskau schmiedeten deutsche Soldaten und Offiziere phantastisch anmutende Zukunftspläne. So berichtete beispielsweise der übergelaufene Soldat Stanislaw Jendshewitsch, Chauffeur bei der Aufklärung des Armeestabs der 9. Deutschen Armee, daß seine Regimentskameraden immer wieder davon sprachen, wie sie nach dem Krieg zwischen New York, Paris, London und Moskau hin- und herreisen werden. Überhaupt würden sie Herren sein, und die Menschen der unteren Klasse werden für sie arbeiten. Ein anderer, der Obergefreite Schulz, hatte vor, nach dem Krieg in Moskau zu leben und dort eine Fabrik zu führen. Er sprach häufig davon und hielt bereits Ausschau nach Helfern und Fahrern. Und der Gefreite Richard Büß plante, nach dem Krieg mit seiner Familie in die Ukraine überzusiedeln und dort ein großes Stück Land zu bewirtschaften. Unteroffizier Behrmann dagegen wollte seinen Kassiererberuf aufgeben und als Gutsbesitzer in der Ukraine leben. Feldwebel Rendicke schließlich sah sich als Schulinspektor und fing bereits an, Russisch zu lernen.1

So gab es immer wieder Soldaten der Wehrmacht, die, während sie auf einen neuen großen Angriff und die endgültige Niederlage der Roten Armee warteten, ihren Zukunftsvisionen nachhingen. Doch es kam das Frühjahr 1942, dann der Sommer, und nichts passierte, nur im Süden Rußlands rückten die Truppen ein wenig vor; das Ende des Krieges war jedoch nicht in Sicht. Die nur in den deutschen Propagandamedien >zerschlagene< Rote Armee griff in einigen Frontabschnitten sogar an. Dies hatte zur Folge - so der gleiche Jendshewitsch -, daß »Trinkgelage, Unzucht, Kasino und Orgien« an die Stelle der Träume traten.2 Die zunehmende Zersetzung der Armee war nicht mehr zu übersehen.

Viele fragten sich, wie die Verbrechen an der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten der UdSSR solche Ausmaße annehmen konnten, wie nahezu alle

1 Aussagen des übergelaufenen Soldaten Stanislav Jendzevic, Chauffeur bei der Aufklärung des Armeestabs der 9. Deutschen Armee vom 3. Oktober 1942. RGASPI (Rossijskij Gosudarstven-nyj Archiv social'no-politiceskoj istorii - Russisches Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte), f. 17, op. 125, d. 97, Bl. 179.

2 EBD.

moralischen Grundsätze und sogar auch die individuelle Scham außer Kraft gesetzt wurden, warum bei dem Gefreiten Bruno Kaliga, Teilnehmer an der Schlacht bei Stalingrad, wie auch bei vielen anderen Deutschen »die Geduld erschöpft« war, »Humor und Mut verloren« gingen und die Verzweiflung einen Grad erreichen konnte, daß er, würde er vor ein Kriegsgericht gestellt und erschossen werden, dies als »Erlösung für seinen gequälten Körper« empfunden hätte.3

Frühjahr 1945. Der Befreiungsfeldzug der Roten Arbeiter- und Bauernarmee (RKKA) näherte sich seinem Ende. Zurück lagen lange Monate eines schrecklichen Krieges mit enormen Verlusten. Die Soldaten und Offiziere hofften, bald nach Hause, zu Familie und Freunden zurückkehren zu können. Das Ende des Krieges sah jedoch anders aus: Es war von massenhafter Gewaltanwendung und Plünde-reien überschattet. Angesichts dieser Situation wagten es damals einige Offiziere wie der Politoffizier Lew Kopelew laut zu fragen:

Was geschah in Ostpreußen? War eine derartige Verrohung unserer Leute wirklich nötig und unvermeidlich - Vergewaltigung und Raub, mußte das sein? [...] In den Zeitungen, im Radio riefen wir auf zur heiligen Rache. Aber was für Rächer waren das, und an wem haben sie sich gerächt? Warum entpuppten sich so viele unserer Soldaten als gemeine Banditen, die rudelweise Frauen und Mädchen vergewaltigten - am Straßenrand im Schnee, in Hauseingängen; die Unbewaffnete totschlugen, alles, was sie nicht mitschleppen konnten, kaputtmachten, verhunzten, verbrannten? ... Sinnlos, aus purer Zerstörungswut... Wie ist das nur alles möglich geworden?4

ENTMYTHOLOGISIERUNG DER KRIEGSGESCHICHTE

Wer versucht, seine Vergangenheit zu bewältigen<, muß sich zwangsläufig auch von vielen historischen Mythen verabschieden. Zu diesen gehörte bis vor kurzem insbesondere auch der Mythos von der >sauberen unbescholtenen Wehrmacht« und der heldenmütigen Roten Armee<. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts verlagerte sich das Interesse deutscher und russischer Historiker von der Analyse großangelegter Kampfhandlungen und -Operationen, den strategischen Wendepunkten sowie den Ergebnissen und Folgen zur Untersuchung der auch menschlichen Dimension, zur Frage etwa nach dem Preis, den Opfern und dem Leiden von Millionen von Menschen im Krieg.

Seit Mitte der 60er Jahre hatten sich als erste westdeutsche Historiker - Hans-Adolf Jacobsen, Manfred Messerschmidt, Andreas Hillgruber, Christian Streit, Helmut Krausnick, Hans-Heinrich Wilhelms und andere - sowie die Journalisten Ernst

3 ELENA SERENKO: Pis'ma iz Stalingrada (Briefe aus Stalingrad). In: Nezavisimaja gazeta vom 31. Dezember 1997, S. 5.

4 LEV KOPELEV: Chranit' vecno. Moskau 1990. S. 16f.; deutsch LEW KOPELEW: Aufbewahren füralle Zeit! Mit einem Nachwort von Heinrich Böll. Hamburg 1976, S. 16 und 17.

Klee und Paul Kohl mit den Verstößen gegen internationale Gesetze und Konventionen im Krieg gegen die Sowjetunion beschäftigt. Sie wiesen auch darauf hin, daß dieser Krieg ein Vernichtungskrieg mit verbrecherischem Charakter war.5 In diesem Zusammenhang sind auch die Arbeiten der früheren DDR-Historiker Norbert Müller, Dietrich Eichholtz, Klaus Gessner und Kurt Pätzold zu erwähnen.6 Die aufgrund dieser Untersuchungen mögliche neue Sichtweise auf den Krieg wurde seit 1979 vor allem durch die vom bundesdeutschen Militärgeschichtlichen Forschungsamt herausgegebene Reihe »Das Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg« sowie das großangelegte Projekt des Hamburger Instituts für Sozialforschung »Wehrmacht und NS-Verbrechen« weiter vertieft. Die hieran beteiligten Wissenschaftler befaßten sich vor allem mit der Frage von >Raub, Terror und Plünderung« durch die Heeresführung in den besetzten Gebieten Europas, insbesondere der Sowjetunion. Darüber hinaus versuchte man, die Ursachen für die Verdrängung der Verbrechen der Wehrmacht aus dem sozialen Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland aufzudecken und ein »Psychogramm des kollektiven Umgangs« mit der Vergangenheit zu erstellen. Dahinter stand die Frage nach den Gründen, warum sich der >Mythos der unpolitischen Wehrmacht« über einen so langen Zeitraum hat halten können und warum es in der westdeutschen Historiographie zu einer ganzen »Skala von Stereotypen von der Ohnmachts- und Opferperspektive bis zum Gegenpol, der Sinngebung des >Abwehrkampfes« im Osten« herausgebildet hat.7 Die Ergebnisse dieses Untersuchungsansatzes wurden in der in zahlreichen deutschen Städten gezeigten Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht« und in dem gleichnamigen von Hannes Heer herausgegebenen Standardwerk präsentiert.8 Als Reaktion auf das Hamburger Projekt veröffentlichte das Militärgeschichtliche Forschungsamt den Band »Die Wehrmacht. Mythos und Realität« mit Beiträgen von 60 Autoren aus sieben Ländern; der kritische Einführungstext entkräftet ebenfalls die Legende von der >unbescholtenen< Wehrmacht und führt neue Archivmate-

 

5 Vgl. MANFRED MESSERSCHMIDT: Die Wehrmacht im NS-Staat. Hamburg 1969; CHRISTIAN STREIT: Keine Kameraden. Stuttgart 1978; PAUL KOHL: »Ich wundere mich, daß ich noch lebe." Sowjetische Augenzeugen berichten. Gütersloh 1990; Ders.: Der Krieg der deutschen Wehrmacht und der Polizei 1941-1944. Frankfurt a.M. 1995; HELMUT KRAUSNICK: Hitlers Einsatztruppen. Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Frankfurt a.M. 1998 u.a.

6 Beispielsweise Okkupation, Raub, Vernichtung: Dokumente zur Besatzungspolitik der faschistischen Wehrmacht auf sowjetischem Territorium 1941 bis 1944. Hrsg. von Norbert Müller. Berlin (Ost) 1980; Der Weg in den Krieg. Studien zur Geschichte der Vorkriegsjahre (1935/36 bis 1939). Hrsg. von Dietrich Eichholtz und Kurt Pätzold. Berlin (Ost) 1989; KLAUS GESSNER: Geheime Feldpolizei. Zur Funktion und Organisation des geheimpolizeilichen Exekutivorgans der faschistischen Wehrmacht. Berlin (Ost) 1986; Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942. Hrsg. von Kurt Pätzold. Leipzig 1983.

7 KLAUS NAUMANN: Wehrmacht und NS-Verbrechen 1941-1944. In: Mittelweg 36 (1992), H. 5, S. 130-136, hier S. 130f., 133.

8 Vernichtungskrieg. Verbrechender Wehrmacht 1941-1944. Hrsg. von Hannes Heer und Klaus Naumann. Hamburg 1995.

rialien über die Okkupationspolitik der deutschen Heereskräfte in den besetzten Gebieten der UdSSR in die Diskussion ein.9

Zahlreiche Historiker wie z.B. Hans-Heinrich Nolte bemängelten, daß Wissenschaftler aus Rußland in all diesen Untersuchungen nicht zu Wort kamen.10 Diese Situation hat sich inzwischen geändert, so daß Veröffentlichungen russischer Historiker zu diesem Thema ebenfalls in die Forschung einbezogen werden.11

In den letzten Jahren entbrannte in Deutschland und Großbritannien erneut die Diskussion um die Verbrechen der Roten Armee gegen die deutsche Zivilbevölkerung. Im Eifer des Gefechts stellen einige Journalisten Wehrmacht und Rote Armee auf eine Stufe und vernachlässigen dabei den prinzipiell unterschiedlichen Charakter der von ihnen jeweils zu verantwortenden Verbrechen. In der russischen Historiographie wird ein solcher Vergleich gar nicht erst gezogen. Die Massenexzesse der Rotarmisten waren lange tabuisiert, so daß einige Veteranen sie auch jetzt noch abstreiten. Die meisten Historiker der älteren Generation lassen sich gar nicht erst auf dieses Thema ein, weil sie der Auffassung sind, daß niemand in der UdSSR die deutschen Truppen gerufen habe und die Zahl der Opfer des Genozids der Nationalsozialisten in den besetzten Gebieten der UdSSR - es wurden 13,6 Millionen sowjetische Bürger getötet - erheblich höher war als die Verluste der Zivilbevölkerung in Deutschland und auch dreieinhalb Jahre Gewalt und Unmenschlichkeit nicht mit der viermonatigen Besatzung Ostdeutschlands (bis zur Gründung der SMAD am 5. Juni 1945) zu vergleichen seien. Und dennoch müssen sich Historiker dem Vergleich stellen. In diesem Zusammenhang sei auf die ersten, freilich umstrittenen Arbeiten der russischen Wissenschaftler Pawel Knyschewskij, Boris Sokolow, Michail Semirjaga, Jewgenij Plimak u. a. verwiesen.12 Nach wie vor aktuell bleibt die Forderung der Freiburger Historiker Wolfram Wette und Gerd R. Ueberschär, daß uns nur »die genaue Kenntnis des schrecklichen Geschehens und der Mut zur Wahrheit weiterführt«13.

So schmerzhaft es sein mag, auch russische Wissenschaftler und die russische Gesellschaft haben sich der Verantwortung der Roten Armee für die sinnlose Ermordung von deutschen Zivilisten, für Plünderung und Gewalt zu stellen. Die

9 Die Wehrmacht. Mythos und Realität. Hrsg. von Rolf-Dieter Müller und Hans-Erich Volkmann. München 1999.

10 HANS-HEINRICH NOLTE: Politik des Halbwissens: Geschichtswissenschaft und Russlandkrieg- Palyse (1998), H. 14, S. 27-32.

11 Vgl. beispielsweise die Artikel von JURIJ RYBALKIN, MICHAIL LESIN, MICHAIL SKAROVSKIJ, VLADIMIR VSEVOLODOV und ALEKSANDR EPIFANOV in: GABRIELE GORZKA/KNUT STANG (Hrsg.): Der Vernichtungskrieg im Osten - Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion aus Sicht russischer Historiker. Kassel 1999.

12 PAVEL KNY§EVSKIJ: Dobyca. Tajny germanskich reparadj (Beute. Die Geheimnisse der deutschen Reparationen). Moskau 1994; M. I. SEMIRJAGA: Kakmyupravljaliv Germanii (Wie wir in Deutschland regiert haben). Moskau 1997 u.a.

13 GERD UEBERSCHÄR/WOLFRAM WETTE: »Unternehmen Barbarossa". Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941. Frankfurt a.M. 1991, S. 9.

kritische Beleuchtung dieses Problems erfordert eine erneute, sorgfältige Analyse schon bekannter sowie auch neuer Quellen zu den negativen Erscheinungen in der Geschichte der Roten Armee. Dadurch wird ihr Verdienst am Sieg über Deutschland keineswegs geschmälert. Die eingehende Diskussion dieses Problemkomplexes verspricht vielmehr Einsichten, die in Zukunft keinerlei Zweifel an ihrer Berechtigung aufkommen lassen werden, so daß von Doppelmoral bestimmte Urteile über das Ausmaß des Geschehenen ausgeschlossen sind und diejenigen, die sich Verbrechen haben zuschulden kommen lassen, ihre Verantwortung nicht auf die Schultern der gesamten Armee wie der Gesellschaft als solche abwälzen können. Damit wird erreicht sein, daß die Erinnerung an die Verbrechen nicht mehr wie in der Zeit des Kalten Krieges verdrängt wird und an die Stelle einer interessengeleiteten Instrumentalisierung von Kriegserfahrungen eine sachgebundene kritische Analyse tritt, die endgültig Abschied nimmt von durch ideologische Klischees geprägten Vorurteilen.

Während die Begriffe Wehrmacht und Holocaust früher unvereinbar schienen, lassen sie sich heute aufgrund zahlreicher eingehender Untersuchungen »nicht mehr voneinander trennen«.14 Inzwischen hat sich der Terminus des »anderen Holocaust« eingebürgert, der, wie Wolfram Wette vermerkt, quantitativ größere Ausmaße hatte als der Völkermord an den Juden: »Die Zahl sowjetischer Bürger, deren Tod außerhalb des Kampffeldes entweder gezielt organisiert oder von den Deutschen gebilligt wurde, ist vermutlich erheblich höher anzusetzen als die Zahl der systematisch vernichteten Juden ... Wir haben den einen Holocaust angenommen und den anderen verdrängt.«15

ZUR DOKUMENTENZUGÄNGLICHKEIT

Auch für den »anderen Holocaust« gilt, daß große Sorgfalt bei der Suche und Präsentation überzeugender Dokumente und Zeugnisse über die begangenen Greueltaten geboten ist. Von den zahlreichen ermittelten russischen Archivquellen konnten nur diejenigen Dokumente berücksichtigt werden, bei denen sich eindeutig nachweisen läßt, daß die beschriebenen Verbrechen tatsächlich von Wehrmachtsangehörigen verübt wurden. In den vorliegenden Dokumenten werden, wenn von Deutschen die Rede ist, diese in der Regel nicht bestimmten Formationen, Armeen

14 KARL-HEINZ JANSSEN: Als Soldaten Mörder wurden. In: Die ZEIT vom 17. März 1995. Der Beitrag wurde nachgedruckt in: Wehrmachtsverbrechen. Eine deutsche Kontroverse. Hrsg. von Heribert Prantl. Hamburg 1997, S. 29-36. Zu einer ähnlichen Schlußfolgerung kommt auch WOLFGANG BENZ: Der Holocaust. 3. Aufl. München 1997, S. 59.

15 V. VETTE [WOLFRAM WETTE]: Obraz vraga: rassistskie elementy v nemeckojpropagandeprotiv So-vetskogo Sojuza. In: Rossija i Germanija v gody vojny i mira (1941-1995). Mjul'chajmskaja iniciativa (Mühlheimer Initiative). Moskau 1995, S. 234. Vgl. zur allgemeinen Problematik auch WOLFRAM WETTE: Die Wehrmacht. Feindbilder. Vernichtungskrieg. Legenden. Frankfurt a.M. 2002.

oder Sonderabteilungen zugeordnet. Auch heute noch hat es für viele Menschen in Rußland keinerlei Bedeutung, ob die Aggressoren als Verbrecher und Henker der Wehrmacht oder der SS, der Polizei oder anderen Militär- oder Zivileinheiten angehörten. Man unterscheidet nur zwischen »Deutschen allgemein« und »Hitlerbanditen« oder »Polizaj«.

Im weiteren werde ich mich nicht mit jenen Verbrechen beschäftigen, die aufgrund der Quellenlage und der historischen Forschung mit der SS und dem SD, mit den speziellen Einsatzgruppen und des Sonderkommandos, mit den Wachsoldaten der Konzentrationslager oder den Namen Himmler und Eichmann in Verbindung gebracht werden; auch geht es hier nicht um die Verbrechen, die von Dolmetschern und Lazarettärzten verübt wurden. Es werden also alle Fakten vernachlässigt, die sich nicht eindeutig der Wehrmacht zuordnen lassen. Entsprechend wird auch bei den Dokumenten über die Rote Armee vorgegangen, deren Unterabteilungen getrennt von den Requirierungs- und Beutekommandos, der Spezialeinheit SMERSCH (»Tod den Spionen«) sowie den Einheiten und operativen Abschnitten des NKGB betrachtet werden müssen.

Von grundsätzlicher Bedeutung ist vor allem die erneute sorgfältige Prüfung von historischen Dokumenten. Ein Beispiel hierfür ist der »Fall Katyn«. Die Ausstellung »Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht« mußte im November 1999 vorübergehend geschlossen werden, da sich elf im Hinblick auf dieses Ereignis gezeigte Fotodokumente nicht eindeutig der Wehrmacht zuordnen ließen.

Ein ähnliches Problem stellte die Überprüfung von die deutsche Seite belastendem Material durch die Politorgane des ZK der WKP (b) und der Roten Armee sowie auch des NKGB dar. Beispielsweise plante die Redaktion der Zeitung »Kom-somolskaja prawda« im Dezember 1942 die Veröffentlichung des Tagebuchs von Oberst A. Wolowik und L. Liwschiz, das herzzerreißende Bilder von dem brutalen Vorgehen der deutschen Seite (wie Skalpieren, Kopfabschlagen, Kannibalismus und weitere perverse Tötungsmethoden) enthielt. Die Fakten zeigten deutlich, daß hier eine Fälschung vorlag: Es stellte sich heraus, daß es sich um >Dokumente< handelte, die aus in einem Unterstand der deutschen Armee gefundenen Fotos zusammengestückelt waren.16 Der am 4. November 1942 in der gleichen Zeitung veröffentlichte Artikel von B. Kowaljow »Der Schachty-Prozeß« (Schachtinskoje delo) erwies sich ebenfalls als Fälschung. Eine Untersuchung ergab, der Verfasser des Beitrags hatte die genannten Orte nie aufgesucht und die Familie Fessenko, deren schreckliche Ermordung im zitierten Brief beschrieben wird (die Mutter war angeblich auf einem Pfahl aufgespießt, die Kinder verbrannt und die Schwestern vergewaltigt worden), lebte in einem ganz anderen Bezirk. Der Artikel endete noch dazu mit einem Aufruf an die Brüder an der Front:

16 RGASPI, f. 5, op. 6, d. 213, Bl. 1-14.

 

Übt Rache am Feind für eure Familie, für die Schändung der Mädchen, für alle, die erhängt wurden. Kämpfer der Roten Armee! Ich bitte euch - schlagt kräftiger zu als der Feind. Vernichtet ihn überall. Das sind keine Menschen, sondern Bestien. Ihnen gebührt kein Platz auf der Erde.17

Den mir vorliegenden Dokumenten aus dem Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF), dem Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums (CAMO RF) und dem Russischen Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte (RGASPI) nach zu urteilen, gab es verschiedene Kanäle, um Verbrechen gegen Zivilisten aufzuspüren und zu registrieren: Zu ihnen zählen die Meldungen der 7. Abteilungen der Polit-verwaltungen der Armeen und Frontabschnitte an die Politische Hauptverwaltung der Roten Armee (hierfür wurden monatlich mindestens 40 Kriegsgefangene befragt), die wiederum an das Sowinformbüro und das ZK der WKP (b) weitergeleitet wurden; die Sondermitteilungen der 1. (Aufklärungs-)Verwaltung des NKWD der UdSSR, die der obersten Führung des Landes und den ZK-Abteilungen des ZK zugingen; die Protokolle über Verbrechen, die von Amtspersonen wie NKWD-Vertretern, Offizieren der Roten Armee und Mitarbeitern der örtlichen Behörden unterzeichnet wurden18; die Informationen aus Partisanenabteilungen sowie die Unterlagen und Briefe, die bei gefallenen Wehrmachtssoldaten und -offi-zieren gefunden wurden.

Über die Verbrechen sowjetischer Soldaten und Offiziere wurden das Kommando der Roten Armee und die politische Führung der Sowjetunion durch Sondermeldungen der Sonderdienste sowie durch Berichte der Politabteilungen und der Politischen Verwaltung der Armeen und Frontabschnitte, der Organe der Militärstaatsanwaltschaft der Armeen und Frontabschnitte und der Abteilungen für Militärzensur, die die Briefe von Militärangehörigen überprüften, informiert. In einem solchen Bericht werden beispielsweise zahlreiche Fälle von Plünderung beschrieben, die die Verfasser dieser Briefe keineswegs für verwerflich ansahen. So schreibt die Militärangehörige Je. Ochrimenko an ihre Familie: »Mama, er hat ein eigenes Auto und Koffer voller Beutestücke, Kleidung und Schuhe, und alles für mich.«19

17 EBD., Bl. 19-24.

18 Beispielsweise unterzeichneten das am 3. August 1944 von Major I. A. Skatschkow aufgesetzte »Protokoll über die Greueltaten, Mißhandlungen und barbarischen Verstöße der deutsch-faschistischen Eroberer in der Stadt Brest« die Vorsitzenden des Exekutivkomitees des Stadtsowjets, der städtischen Gesundheitsabteilung, der Abteilung für Volksbildung beim Gebietssowjet, des Kommunistischen Jugendverbands Weißrußlands, eine Hausangestellte, der Leiter der Arbeiterkantine, ein Kinotechniker, ein Lehrer und ein polnischer Geistlicher. Vgl. RGASPI, f. 71, op. 25, d. 18624, Bl. 10. Es wurden auch Gebietskommissionen zur Unterstützung der Tätigkeit der Außerordentlichen Staatlichen Kommission zur Feststellung und Untersuchung von Vergehen deutsch-faschistischer Okkupanten und ihrer Helfershelfer eingerichtet. Vgl. RGASPI, f. 71, op. 25, d. 18611.

19 CA MO RF (Central'nyj archiv Ministerstva Oborony - Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums), f. 372, op. 6570, d. 76, Bl. 90; auch abgedruckt in: Otetotvennye archivy 1992, Nr. 1, S. 105.

Im Folgenden will ich auf von der Wehrmacht bzw. der Roten Armee verübte Verbrechen hinweisen und versuchen, sie zu beurteilen. Ausgehend von ihrer Charakterisierung wären dann die Bedingungen zu klären, unter denen diese Verbrechen stattfanden. Hieran schließt sich die Frage an, inwieweit beide an dem jeweiligen Verbrechen beteiligte Seiten dies in der einen oder anderen Weise zugaben und es ihnen als solches bewußt war. Unser Interesse gilt somit allen Fakten, in denen die handelnden Personen das Geschehen direkt oder indirekt als intendiert und moralisch verwerflich bewerteten, es schriftlich festhielten und zu einem Bestandteil ihrer Autobiographie werden ließen. Allerdings weist Knut Stang darauf hin, daß es unabhängig von den Ergebnissen, zu denen man dabei kommt, [...] nützlich für die eigene Biographie und damit für die fortgesetzte Herstellung und Rekonstruktion der eigenen Identität [ist], sich auch mit der Schuldfrage in Selbstreflexion und biographischer Hinsicht zu befassen. Es ist aber wohl dem Selbstwertgefühl selten sonderlich zuträglich, sich dabei so inkriminiert zu finden, daß man unter der Last der Schuld zu Boden geht.20

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, wie schwierig es ist, ein unparteiisches internationales Tribunal ins Leben zu rufen, das gleichermaßen gegen Besiegte und Sieger Recht spricht. So handelte es sich bei dem Londoner Viermächteabkommen vom 8. August 1945, auf dessen Grundlage der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg eingesetzt wurde und seine Rechte erhielt, dem Beschluß des Alliierten Kontrollrats Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 sowie den Gesetzen und Verordnungen, die in den einzelnen Staaten über die Aburteilung der Kriegsverbrecher erlassen wurden, um Gesetze, die sich ausschließlich gegen die Besiegten richteten. Aus diesem Grund befasse ich mich in meiner Untersuchung nicht mit den juristischen Schuldgeständnissen nach dem Krieg; diese sind von eigenen Leiden und Schmerzen bzw. den existentiellen Zukunftssorgen der Betreffenden beeinflußt und waren mit dem Bestreben verbunden, durch die Art der Aussage einer Strafe zu entgehen und möglichst bald nach Hause zurückkehren zu dürfen. Vielmehr geht es mir um Belege dafür, daß sich die Menschen noch während des Krieges, als dessen Ausgang und eine künftige strafrechtliche Verfolgung noch nicht abzusehen waren, selbst ihrer Verbrechen bewußt wurden; d.h., wie sie ihre Tat nicht vor Gericht, sondern vor ihren Untergebenen, ihrer Familie und vor sich selbst beurteilten.

Wie typisch waren nun Einschätzungen dieser Art sowohl für die Wehrmacht als auch für die Rote Armee? Die Frage ist schwierig zu beantworten; noch immer kennen wir nicht den wahren Umfang von Archivdokumenten zu diesem Thema. Bisher sind uns sowohl von der eben als auch der anderen Seite nur wenige Fälle direkter, indirekter, häufig namenloser Schuldeingeständnisse bekannt. Wer über Verbrechen sprach und sich dazu bekannte, an ihnen in gewisser Weise mitgewirkt zu haben, hatte dabei durchaus nicht unbedingt auch einen Durchblick über das

20 KNUT STANG: Schuld und Schuldeingeständnis: Fortgesetzte Schwierigkeiten mit einem alten Problem In: Gorzka/Stang: Der Vernichtungskrieg im Osten (wie Anm. 11), S. 131-152; hier S. 133f.

 

gesamte Ausmaß des Unheils, geschweige denn reflektierte er über seine persönliche Haltung dazu.

WAS SIND VERBRECHEN GEGEN DIE ZIVILBEVÖLKERUNG?

In Artikel 6 des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs, das dem Nürnberger Prozeß zugrunde lag, werden Fragen der Rechtsprechung und allgemeine Prinzipien behandelt. Zu den Handlungen, die der Rechtsprechung des Militärgerichtshofs unterliegen und für die der Täter persönlich verantwortlich ist, werden in Paragraph b Verbrechen gegen die Menschlichkeit gezählt. Zu solchen Verbrechen gehören die folgenden:

Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an irgendeiner Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges, Verfolgung aus politischen, rassistischen oder religiösen Gründen, begangen in Ausführung eines Verbrechens oder in Verbindung mit einem Verbrechen, für das der Gerichtshof zuständig ist, und zwar unabhängig davon, ob die Handlung gegen das Recht des Landes verstieß, in dem sie begangen wurde, oder nicht.21

54 784 der im Staatsarchiv der Russischen Föderation aufbewahrten Akten der Außerordentlichen Staatlichen Kommission zur Feststellung und Untersuchung von Vergehen deutsch-faschistischer Okkupanten und ihrer Helfershelfer betreffen Verbrechen an der sowjetischen Zivilbevölkerung22. Entsprechend den dort angeführten Fakten lassen sich die Verbrechen wie folgt kategorisieren: Einsatz der Zivilbevölkerung bei Kampfhandlungen, Zwangsmobilisierung der Zivilbevölkerung, Erschießung von Zivilisten und Zerstörung ihrer Wohnungen, Vergewaltigung und Jagd auf Menschen, die als Zwangsarbeiter für die deutsche Industrie eingestellt waren.

Bereits in einer der ersten Noten des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR vom 6. Januar 1942 wurden der Weltöffentlichkeit Dokumente über den Einsatz der Zivilbevölkerung bei Kampfhandlungen vorgelegt. Sowohl während ihrer Angriffe als auch beim Rückzug deckten Verbände und Truppenteile der Wehrmacht die Kampfreihen der eigenen Truppen durch Zivilisten, überwiegend Frauen, alte Männer und Kinder.

21 Njurnbergskij process. Sbornik materialov v 8-mi tomach (Der Nürnberger Prozeß. Sammlung von Materialien in 8 Bänden). Moskau 1987ff; deutsch Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg, 14. November 1945 - 1. Oktober 1946. Amtlicher Wortlaut in deutscher Sprache. 42 Bde. Nürnberg 1947-1949 (Nachdruck: München 1984ff.); hier Bd. 1, S. 12. Nachfolgend werden diese Ausgaben mit Kurzform NP plus Band- und Seitenangabe zitiert.

22 Crezvycajnaja gosudarstvennaja komissija po ustanovleniju i rassledovaniju zlodejanij nemecko-fasist-skich zachvatcikov i ich soobscnikov. Diese Akten werden im GARF (Gosudarstvennyj archiv Ros-sijskoj Federacü - Staatsarchiv der Russischen Förderation) aufbewahrt.

Am 28. August 1941 versammelten die faschistischen deutschen Truppen bei einem Übergang über den Fluß Iput, da sie nicht in der Lage waren, den standhaften Widerstand der Truppenteile der Roten Armee zu überwinden, die ortsansässige Bevölkerung der bjelorussischen Stadt Dobrusch im Bezirk Gomel und trieben unter Androhung des Erschießens Frauen, Greise und Kinder vor sich her, hinter denen sie dann ihre Kampfgliederungen entfalteten und zum Angriff vorgingen.23 [...]

Am 8. Dezember deckten die Nazis ihren Abzug aus dem Dorf Jamnoje im Bezirk Tula durch ortsansässige Einwohner. Am 12. Dezember nahmen sie in dem gleichen Kreise 120 Greise und Kinder zusammen und schickten sie während der Kämpfe gegen die angreifenden Truppenteile der Roten Armee ihren Soldaten voraus.24

Ähnliche Fälle wurden auch bei Rostow sowie im Leningrader, Smolensker und Kalininer Gebiet registriert. Die Sicherung der vorrückenden Truppen durch Zivilisten wurde im Oktober 1942 auch mehrfach in Stalingrad beobachtet.25 Außerdem setzte man die Bevölkerung für besonders gefährliche Arbeiten wie die Räumung von Minenfeldern ein.

Mit den steigenden Verlusten der deutschen Armee, insbesondere nach den schweren Niederlagen im Winter 1942/1943, nahm die Zwangsmobilisierung der Zivilbevölkerung für die Aufstellung antisowjetischer Truppenteile in den besetzten Gebieten enorm zu. Im Frontstreifen mobilisierten die Deutschen alle Männer, und zwar auch Kinder und Alte, die aus irgendeinem Grund nicht nach Deutschland

23 NP, russ. Bd. 5, S. 98; dt. Bd. 7, S. 506.

24 EBD.

25 RGASPI, f. 17, op. 125, d. 91, Bl. 190.

verschleppt wurden. Nach dem Aufruf zur »totalen Mobilisierung« in Deutschland verpflichteten die Besatzungsbehörden nicht nur die Bewohner der frontnahen sondern auch aller anderen besetzten Gebiete zum Kriegs- oder Arbeitsdienst. Denjenigen, die sich der Mobilisierung zu entziehen versuchten, drohten Repressalien bis hin zur Erschießung.26

Zu den Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion gehörte auch die Erschießung von Zivilisten und das Zerstören ihrer Wohnungen. Als deutsche Truppen im Januar 1942 den Ort Mjassojedowo, Bezirk Belgorod, verließen, zündeten sie das ganze Dorf bis zum letzten Haus an und vertrieben die Bevölkerung gewaltsam. Im Bericht für das Sowinformbüro wird mitgeteilt:

Am 24. Januar beschlossen acht Frauen aus diesem Dorf, die 60jährige A. Russanowa, die 17jährige Je. Kondratjewa, die 18jährige S. Lupandina, M. Speziwzewa, Mutter von drei Kindern, M. Mursajewa, Mutter von zwei Kindern, A. Kondratjewa und der 15jährige Junge N. Lupandin in ihr Heimatdorf zu gehen. Unterwegs trafen sie auf einen deutschen Aufklärungstrupp, 20 Mann stark. Die faschistischen Schurken packten die schutzlosen Frauen, zogen ihnen allen die Filz- und Lederstiefel aus, führten sie zum anderen Dorf ende in einen Keller, zwangen sie, sich hinzuknien und erschossen sie alle der Reihe nach.27

Während eines Angriffs deutscher Truppen im Juni desselben Jahres versteckten sich die Bewohner von Bolschaja Berjoska, Gebiet Brjansk, während der Offensive der deutschen Truppen im Wald. Sie erhielten den Befehl, ins Dorf zurückzukehren, und dann trug sich Folgendes zu:

150 alte Männer, Frauen und Kinder kehrten nach Hause zurück. Danach wurden sie in die Kolchosescheunen getrieben, mit Bajonetten erstochen und mit Gewehrkolben erschlagen. Elf Kinder im Alter von 12-13 Jahren wurden lebendig begraben.

Am 23. Juli um 7 Uhr morgens überfielen deutsche Truppen zusammen mit 1500 Polizisten im gleichen Gebiet ein Dorf, in dem sich Partisanen aufhielten. Der Kampf zog sich bis 21 Uhr hin. Nachdem sich die Partisanen in den Wald zurückgezogen hatten, zerstörten die Deutschen das Dorf und zündeten 529 von 542 Häusern, drei Schulen, drei Dampfbäder, das Krankenhaus und den Kindergarten an.28

Das Gerichtsprotokoll des Kriegstribunals der 374. Schützendivision Ljuban vom 29. November 1944 (das auszugsweise dem Nürnberger Gerichtshof vorgelegt wurde) enthält die Aussagen des Angeklagten Le Court, die er vor dem

26 Von der Hauptverwaltung Aufklärung der RKKA erstellte Übersicht über die Maßnahmen der deutschen Behörden in den vorübergehend besetzten Gebieten, der erbeutete Dokumente sowie von Juni 1941 bis März 1943 eingegangene ausländische Presse- und Agenturmaterialien zugrunde lagen. In: Neizvestnaja Rossija. XXvek Pas unbekannte Rußland. 20. Jahrhundert) 1993, Bd. 4, S. 265. Meldung von Brigadekommissar I. Michal'cuk, Leiter der Politabteilung der 21. Armee, ans Sowinformbüro vom 26. Februar 1942. RGASPI, f.

27 op. 125, d. 91, Bl. 26.

28 Meldung der Politverwaltung der Brjansker Front an die Politische Hauptverwaltung der RKKA vom 15. Juni 1942. RGASPI, f. 17, op. 125, Bl. 134,149.

Militärfeldgericht gemacht hatte. Le Court gehörte nicht der SS an, sondern war ein gewöhnlicher parteiloser Obergefreite der Wehrmacht, 27 Jahre alt. In Stargard (Pommern) geboren, hatte dort bis zum Krieg gelebt, war Kinobesitzer gewesen und dann zur Armee einberufen worden. Seinen Militärdienst leistete er in der 1. Kompanie der 4. Luftwaffen-Regiments. Le Court sagte Folgendes aus:

Vor meiner Gefangennahme durch die Truppen der Roten Armee, d.h. bis zum Februar 1944, diente ich als Laborant in der Radfahrer-Kompanie der 2. Luftwaffen-Infante-rie-Division 4 in der Kommandantur des Flugplatzes E 33/XI. Außer den Aufnahmen machte ich in der dienstfreien Zeit andere Arbeiten, d. h. ich erschoß im eigenen Interesse kriegsgefangene Rotarmisten zusammen mit friedlichen Bürgern. Ich habe Aufzeichnungen gemacht und in einem besonderen Buche aufgezeichnet, wieviel Kriegsgefangene und wieviel Einwohner ich erschossen habe [...]. Im November 1942 nahm ich an der Erschießung von 92 Sowjetbürgern teil. Von April bis Dezember, als ich im Luftwaffen-Infanterie-Regiment war, beteiligte ich mich an der Erschießung von 55 Sowjetbürgern; ich führte deren Erschießung aus [...]. Außerdem nahm ich an Strafexpeditionen teil und steckte Häuser in Brand. Insgesamt wurden von mir mehr als 30 Häuser in verschiedenen Dörfern niedergebrannt. Ich kam mit der Strafexpedition ins Dorf, trat in die Häuser ein und teilte der Bevölkerung mit, daß niemand die Häuser verlassen soll und daß wir die Häuser in Brand stecken werden. Ich steckte ein Haus an, und niemand wurde aus dem Haus herausgelassen. Wenn jemand sich retten oder aus dem Hause zu fliehen versuchte, so wurde er ins Haus zurückgetrieben oder erschossen. Auf solche Weise wurden von mir mehr als 30 Häuser und 70 friedliche Einwohner, hauptsächlich Greise, Frauen und Kinder verbrannt [...] ,29

Ahnliche Aussagen machte auch der gefangengenommene Obergefreite der 2. Kompanie der 9. Panzerdivision Arno Schwager:

Beim Rückzug aus Kursk [...] erhielten wir den Befehl, alle Orte, die wir verließen, in Brand zu stecken. Weigerten sich die Bewohner, ihre Häuser zu verlassen, sperrten wir sie ein und zündeten sie zusammen mit ihren Häusern an ...30

Erbarmungslos, wie die Gesetze des Krieges sind, geriet die Zivilbevölkerung in Gebieten, in denen die Partisanenbewegung besonders aktiv war, häufig ins Zentrum der ausbrechenden Kämpfe und wurde so zum unfreiwilligen Opfer beider Seiten. So ließen die »Faschisten« ihren Ärger über mißlungene Straf Operation gegen die Partisanen immer wieder an der Zivilbevölkerung aus. Auch unbedeutende Kampfaktionen und Sabotageakte der Partisanen in der Nähe von Ortschaften wurden mit Repressionen geahndet. Im November 1941 verwundeten Aufklärer der Partisanenbewegung im Dorf Uspenka, Gebiet Tschernigow, einen deutschen Soldaten. Am nächsten Morgen erschossen die Deutschen mehrere Bewohner und nahmen 75 Bewohner als Geiseln. Im Dorf Kutejkowo zerschnitten Partisanen an zwei Stellen Telefonleitungen, eine Aktion, die sie auch in größerer Entfernung von

29 NP, russ. Bd. 5, S. 99; dt. Bd. 7, S. 510f.

30 Meldung der Politischen Hauptverwaltung der RKKA vom 23. September 1942 ans ZK der VKP(b). RGASPI, f. 17, op. 125, d. 97, Bl. 15-16.

der Ortschaft hätten durchführen können. Am folgenden Tag zündeten die Deutschen einige Häuser an und erschossen die darin lebenden Kolchosebauern. Im Dorf Troizkoje zündete man ein unbeladenes Auto an, während man das benachbarte Munitionslager unberührt ließ. Und wieder wurde mit der Zivilbevölkerung abgerechnet. Die wenig effektive Taktik der >kleinen Stiche< der Partisanen in der unmittelbaren Nähe von Ortschaften wurde mit viel Blut von alten Menschen Frauen und Kindern bezahlt.31

Andererseits kommt Hannes Heer in seiner Analyse deutscher, russischer und weißrussischer Archivdokumente zu dem Schluß, daß der Terror in Weißrußland 1941/1942, als es noch keine Massenbewegung der Partisanen gab, eskalierte^ unter dem Deckmantel von Strafaktionen gegen Banditen wurden »Zehntausende von Zivilisten gejagt, gefangengenommen und erschossen«. In offiziellen Dokumenten der Wehrmacht war von der »Zerstörung von Partisanenlagern und -unterständen« die Rede; auf diese Weise wurde die >Fiktion eines Krieges< erzeugt, »der ein Maximum an Möglichkeiten bot, zu töten und die Wahrscheinlichkeit, getötet zu werden, auf ein Minimum reduzierte«.32

Mißhandlungen und Ausraubung von Zivilisten gehörten zu den verbreitetsten Verbrechen der Wehrmacht und waren überall anzutreffen. Nicht ohne Grund wurden die Soldaten der Fronttruppe als »Raubsoldaten der deutschen Armee« bezeichnet. In den Dokumenten finden sich unzählige Belege für unterschiedlichste Raubdelikte. In einer Akte des Volkskommissariats für Gesundheitswesen vom Januar 1942 ist vermerkt, daß deutsche Soldaten die Dorfbewohner von Panowo, Bezirk Malojaroslaw, während ihrer vierzigtägigen Okkupation (14. November bis 24. Dezember 1941) äußerst grob und brutal behandelt hätten. Vom 6. bis 18. Dezember vertrieben sie die Einwohner von Panowo und Kulikowo aus ihren Häusern und trieben sie in Gruppen von jeweils 40-50 Personen in Dampfbäder oder winzige baufällige Hütten. Jeden Morgen und jeden Abend wurden die Erwachsenen nach draußen gejagt, um die Wege von Schnee freizuräumen. Die Soldaten demonstrierten mit ihrem Verhalten, daß sie Russen nicht als Menschen ansahen. Wir lesen in der Akte:

Der deutsche Soldat geniert sich nicht, sich in Gegenwart der Frauen und Kolchosbauern die Hosen auszuziehen und nach Läusen zu suchen. Nachdem er sich seiner Wäsche entledigt hat, bleibt er häufig nackt in der Hütte stehen und zwingt die Frauen, seine Wäsche zu waschen. Ihre Toilette verrichten sie auf der Treppe unter dem Fenster vor den Augen von Frauen, jungen Mädchen und Kindern. Einmal ist ein Kind, das 1 Jahr und acht Monate alt war, vom Ofen weggelaufen und hat auf dem Boden gespielt. Ein deutscher Soldat ließ das Kind mit Absicht fallen und trat ihm auf die Beine, als wollte

31 Vgl. ausführlicher CA MO, f. 229, op. 213, d. 41, Bl. 233; V. A. PEREZOGIN: Partizany i naselenie (1941-1943) (Partisanen und Bevölkerung. 1941-1945). In: Otecestvennaja istorija 1997, Nr. 6, S. 150-153.

32 HANNES HEER: DieLogikdes Vernichtungskrieges. Wehrmacht und Partisanenkampf. In: Vernichtungskrieg (wie Anm. 8), S. 104-138, hier S. 108-109, 120.

er damit demonstrieren, daß ein russisches Kind für ihn ein »Schweinchen« ist, wie die deutschen Soldaten die russischen Kinder nennen ...33

Heinrich Krause, ein Soldat der 9. Kompanie des 377. Infanterie-Regiments der 225. Infanteriedivision, berichtet beim Verhör:

Ich wohnte in Sennaja Kerest, Haus 120. Vor einer Woche fand in dem Dorf eine Zwangseintreibung warmer Sachen statt. Jedes Haus sollte ein Paar Filzstiefel abgeben. Im Haus 120 wohnte eine zehnköpfige Familie, die ihre Filzstiefel schon abgeliefert hatte, die Frau des Hauses hatte auch eine Quittung darüber erhalten. Eines Tages kamen zwei Unteroffiziere ins Haus und verlangten ein weiteres Paar Filzstiefel. Die Frau sagte, daß sie keine Filzstiefel mehr hätten und zeigte ihnen die Quittung, doch sie ignorierten dies und begannen, sie zu schlagen. Ich war darüber sehr empört, konnte sie aber nicht in Schutz nehmen, weil ich sonst am nächsten Tag wegen Unterstützung der Bevölkerung erschossen worden wäre.34

Der bereits zitierte Obergefreite Arno Schwager sagte bei seiner Vernehmung aus, daß seine Division im September 1942 in Nikolskoje bei Kursk eine Rast einlegte. Vom Standort der Division wurden Requirierungstrupps in die umliegenden Dörfer geschickt, welche der Bevölkerung Kühe, Kälber, Schafe, Hühner und Honig abnehmen sollten.

Die Bewohner weinten und flehten, Frauen und Kinder fielen vor den Soldaten auf die Knie. Die Soldaten schlugen sie mit Gewehrkolben und traten sie mit Füßen. Im Dorf Woltschanka habe ich selbst gesehen, wie ein Soldat so lange auf eine Frau einprügelte, bis sie das Bewußtsein verlor. Ohne sie weiter zu beachten, führte er ihre letzte Kuh fort, obwohl sechs Kinder zurückblieben, die dem Hungertod geweiht waren.35

Schwager erwähnt in seiner Aussage noch ein weiteres schreckliches Verbrechen der Soldaten und Offiziere der Wehrmacht, nämlich die Massenvergewaltigungen. Unter anderem gibt er den Bericht des Gefreiten Steiger aus seiner Panzerdivision wieder. Steiger hatte im Februar 1942 in einem Dorf 30 km westlich von Semljansk, Gebiet Kursk, ein 13jähriges Mädchen zuerst vergewaltigt und dann erwürgt.36 Schwager selbst war Zeuge einer anderen Szene in Kursk:

Ich stand von 6 bis 8 Uhr Posten. Gegenüber meines Wachpostens lebte der hochrangige Militärbeamte Behner. Um 6.15 Uhr waren aus seiner Wohnung plötzlich Schreie und Geschimpfe zu hören. Als ich mit dem Gewehr in den Raum trat, sah ich, wie der Offizier mit einer Reitpeitsche auf ein 13-14jähriges Mädchen einschlug, das halbnackt auf einem Tisch festgebunden war.37

33 RGASPI, f. 17, op. 125, d. 91, Bl. 5

34 Meldung der 7. Abteilung der Politverwaltung der Volchover Front an die Politische Hauptverwaltung der RKKA. RGASPI, f. 17, op. 125, d. 97, Bl. 15-16.

35 RGASPI, f. 17, op. 125, d. 91, Bl. 180-181.

36 EBD., Bl. 182.

37 EBD, Bl. 183.

In den Städten Narwa und Kingisepp richteten die Deutschen Bordelle für die Wehrmachtsoffiziere ein. In diese Häuser wurden die Mädchen und Frauen aus den Dörfern gebracht. Wer sich weigerte, im Bordell zu bleiben, wurde erschossen. In der Note des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR vom 6. Januar 1942 wird der Aufenthalt deutscher Soldaten und Offiziere im Dorf Basmanowo, Bezirk Glinkow, Gebiet Smolensk, folgendermaßen beschrieben:

Gleich am ersten Tag trieben die faschistischen Scheusale mehr als 200 Schüler und Schülerinnen, die zur Einbringung der Ernte eingetroffen waren, auf dem Feld zusammen. Die Kinder wurden umzingelt und bestialisch niedergeschossen. Eine größere Gruppe von Schülerinnen wurde von den Hitler-Faschisten für die Herren Offiziere ins Hinterland gebracht.

Weiter heißt es in dem Bericht: »In dem ukrainischen Dorf Borodajewka im Bezirk Dnjepropetrowsk vergewaltigten Deutsche alle Frauen und Mädchen.«

m dem Dorf Berjosowka im Gebiet Smolensk vergewaltigten und verschleppten betrunkene deutsche Soldaten alle Frauen und jungen Mädchen im Alter von 16 bis 30 Jahren.

hi der Stadt Smolensk eröffnete das deutsche Kommando in einem der Hotels ein Offiziersbordell, in das Hunderte von Mädchen und Frauen geschleppt wurm Weißrußland, nahe der Stadt Borissow, fielen den Hitlerfaschisten 75 Frauen und Mädchen in die Hände, die beim Anmarsch der deutschen Truppen geflohen waren. 36 Frauen und Mädchen wurden von den Deutschen vergewaltigt und darauf bestialisch ermordet.

Das 16jährige Mädchen L. I. Meltschukowa führten die Soldaten auf Befehl des deutschen Offiziers Hummer in den Wald, wo sie es vergewaltigten. Nach einiger Zeit sahen andere Frauen, die ebenfalls in den Wald geführt worden waren, daß bei den Bäumen Bretter standen, an denen die sterbende Meltschukowa aufgespießt war. Die Deutschen haben ihr vor den Augen der anderen Frauen, unter ihnen W. I. Alperenko und W. M. Beresnikowa, die Brüste abgeschnitten.38

Außerdem führte die Wehrmacht eine regelrechte Jagd auf Menschen durch, die als Sklaven für die deutsche Industrie eingesetzt wurden. 1941 ging die Berliner Regierung noch davon aus, daß sich die erforderliche Zahl von Arbeitskräften aus den besetzten sowjetischen Gebieten ohne besondere Anstrengungen und Zugeständnisse, notfalls mit Gewalt, rekrutieren lassen würde. Die Menschen, die im Winter 1941/42 noch mehr oder weniger freiwillig nach Deutschland kamen, äußerten sich in ihren Briefen jedoch so negativ über ihr Leben im »Reich«, daß die Stimmung der Bevölkerung der besetzten Gebiete bald umschlug. Die nachlassende Loyalität der Bevölkerung führte zu rigorosen Zwangsmaßnahmen der deutschen

38 NP, Bd.7, S.502f.

 

Behörden. Auf Bahnhöfen, Plätzen und Märkten wurden Razzien veranstaltet. In einem Bericht über die Ergebnisse geheimer Briefkontrollen heißt es:

Besonders hart wird empfunden, daß durch die Zwangswerbungen Mütter von ihren kleinen Kindern und Schulkinder von der Familie getrennt werden. Die Betroffenen suchen sich mit allen Mitteln dem Abtransport nach Deutschland zu entziehen [...] Das hat wiederum eine Verstärkung der deutschen Gegenmaßnahmen zur Folge; als solche werden erwähnt: Beschlagnahmung des Getreides und des Eigentums, Inbrandsetzung des Hauses, gewaltsames Zusammentreiben, Fesselung und Mißhandlung, Zwangsaborte von schwangeren Frauen.39

Obgleich die Zahl der sogenannten Anwerbekommissionen stieg und die Propaganda für den Arbeitseinsatz im »Reich« verstärkt wurde, blieb die gewünschte Wirkung aus. In dieser Phase wurde die Wehrmacht zur Zwangsrekrutierung eingesetzt. So heißt es im Befehl des 29. Armeekorps vom 24. Januar 1943:

Alle Männer und Frauen von 16 bis 60 Jahren sind zu erfassen, in Arbeitskommandos einzuteilen [...] Wer sich weigert oder die Arbeit sabotiert, ist zu erhängen.40

Nach Angaben des Hamburger Historikers Rolf-Dieter Müller wurden 1943 etwa eine Million Sowjetbürger als Zwangsarbeiter nach Deutschland transportiert. Von den ursprünglich fünf Millionen russischer, ukrainischer und weißrussischer Zwangsarbeiter standen im Herbst 1944 nur noch 726000 für den Arbeitseinsatz zur Verfügung.41

Auch die deutsche Zivilbevölkerung hatte am Ende des Krieges unter der Zersetzung der Wehrmacht zu leiden. Im Januar 1945 schrieb ein deutscher Offizier folgenden Brief an Goebbels, der allerdings nicht abgeschickt wurde:

Wir erleben hier in der kleinen Stadt Hustadt ein entsetzliches Chaos, wie man es sich schlimmer nicht vorstellen kann [...] Die Truppeneinheiten, die hier ohne Kommandeure durchziehen, haben die Bevölkerung ausgeraubt, sich Zivil angezogen und ihre Uniformen auf die Straßen geworfen. Überall liegen Papiere, Revolvertaschen und Helme herum, die Soldaten werfen alles weg, was sie daran erinnern könnte, daß sie Soldaten sind [...] Auf den Straßen liegen lauter Uniformstücke, Pferdekadaver und gestohlene Lebensmittel, die sie in dieser großen Menge nicht mitnehmen können [...] Ihr treuer Parteigenosse Hilli.42

39 ALEXANDER DALLIN: Deutsche Herrschaft in Rußland 1941-1945. Düsseldorf 1958, S. 448.

ROLF-DIETER MÜLLER: Menschenjagd. Die Rekrutierung von Zwangsarbeitern in der besetzten Sowjetunion. In: Vernichtungskrieg (wie Anm. 8), S. 92-101, hier S. 99.

41 MÜLLER: Menschenjagd (ebd.), S. 101. Vgl. ebenso: R.-D. MJULLER: Nasü'stvennoe rekrutirovanie »vostocnych mbocich« (Die Zwangsrekrutierung von Ostarbeitern). 1941-1944. In: Vtoraja mirovaja vojna: Diskussii. Osnovnye tendencii. Rezul'taty issledovanij. Moskau 1997, S. 609-618.

42 Aus den Beutedokumenten: Brief an Goebbels, der am 1. Februar 1945 in Hustadt bei einem getöteten Offizier gefunden und der 7. Abteilung der Politischen Verwaltung der 2. Weißrussischen Front übergeben wurde. RGASPI, f. 17, op. 125, d. 322, Bl. 12 (Rückübersetzung aus dem Russischen). Eine Reihe deutschsprachiger Dokumente (siehe auch weiter unten) mußte beim vorliegenden Beitrag aus der im RGASPI nur zugänglichen russischen Übertragung ins Deutsche rückübersetzt werden. Die deutschen Originale liegen im Razved Upravlenija General'nogo staba (Aufklärung der Leitung des

Der Befehlshaber der 2. Deutschen Armee Oberst Weiß mußte am 3. Februar des gleichen Jahres ebenfalls zugeben, daß sich im rückwärtigen Gebiet »kleine Gruppen von Feiglingen und Deserteuren herumtreiben«, »die verräterisch denken und handeln«43.

Die Bestimmungen von Artikel 6 des Statuts des Internationalen Militärtribunals werden in der Regel nur auf die besiegten Deutschen angewendet. Dies bedeutet jedoch nicht, daß nicht auch die Handlungen der Soldaten und Offiziere der Roten Armee aus der Sicht der Bestimmungen dieses Artikels betrachtet werden können. Zwar wurde 1945 im besiegten Deutschland keine Kommission eingerichtet, die Akten über die Verbrechen der sowjetischen Militärangehörigen anlegten; den Organen der Militärstaatsanwaltschaft sowie auch hohen und einfachen Rote Armee-Führern ist jedoch zugute zu halten, daß sie das Ausmaß und die Arten der Verbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung und sogar an den nach Deutschland zwangsverschleppten Landsleuten in ihren Berichten und anderen Aussagen ehrlich, wenn auch in entsprechender ideologischer Diktion, darstellten. Besonders verbreitet waren sinnlose Erschießungen und Ermordungen, Vergewaltigungen und Plünderungen von Zivilisten. Meldungen hierüber gelangten ab Februar 1945 regelmäßig nach Moskau, und wenn der Charakter der sogenannten »Vorkommnisse« und »Exzesse« hierin auch verharmlost wurde, war dennoch offensichtlich, welche schrecklichen Ereignisse sich kurz vor Kriegsende abspielten.

So berichtet Emma Korn den NKWD-Vertretern bei der Samlander Gruppe der Streitkräfte:

Vor ihrem Abzug schlug uns das Kommando der deutschen Armee vor, uns in die Stadt Königsberg evakuieren zu lassen, und kündigte an, daß die »roten Asiaten« unerhörte Greueltaten an der deutschen Bevölkerung verüben würden. Auf Rat der deutschen Soldaten ließen wir uns nicht evakuieren und blieben in Spaleiten. Am 3. Februar zogen die ersten Einheiten der Roten Armee in die Stadt ein. Sie kamen in den Keller, wo wir uns versteckt hatten, und führten mich und zwei weitere Frauen mit vorgehaltener Waffe in den Hof. Dort wurde ich von zwölf Soldaten nacheinander vergewaltigt. Andere taten meinen beiden Nachbarinnen das Gleiche an [...] In der nächsten Nacht drangen sechs betrunkene Soldaten in unseren Keller ein und vergewaltigten uns vor unseren Kindern. Am 5. Februar kamen drei Soldaten, am 6. Februar acht betrunkene Soldaten, die uns ebenfalls vergewaltigten und schlugen. Unter dem Einfluß der deutschen Propaganda, daß die Rote Armee die Deutschen mißhandelt, und nachdem wir gesehen hatten, daß die Rote Armee uns wirklich mißhandelt, beschlossen wir, uns das Leben zu nehmen,

Generalstabs) und sind dort - wie auch deutsche Dokumente im russischen Verteidigungsmimstenum - für die Forschung nicht zugänglich. Anm. d. Red.

43 Aus einem Befehl des Kommandierenden der 2. Deutschen Armee vom 3. Februar 1945. RGASPI, f. 17, op, 125, d. 322, Bl. 25-26; Rückübers. aus dem Russischen.

 

-weshalb wir uns und unseren Kindern am 8. Februar die Handgelenke und Pulsadern der rechten Hand aufschnitten [.. .].44

Der Kommissar für Staatssicherheit Tkatschenko teilte dem Volkskommissar für Innere Angelegenheiten Lawrentij P. Berija mit:

Nach Aussage vieler Deutsche wurden in Ostpreußen alle deutschen Frauen, die im rückwärtigen Heeresgebiet der Roten Armee verblieben waren, von den Soldaten der Roten Armee vergewaltigt. Wilhelm Schedereiter aus der Stadt Granz meldete der Filtrationsstelle, daß am 12. Februar mehrere Armeeangehörige in seine Wohnung eindrangen und alle Frauen, minderjährigen Mädchen und alten Frauen vergewaltigten. Seine mehrfach vergewaltigte Tochter Gertrude erklärte, daß die im rückwärtigen Heeresgebiet der Roten Armee verbliebenen Deutschen Hunger, Epidemien und Repressionen der in Kürze eintreffenden NKWD-Truppen erwarten.45

Schätzungen der beiden größten Berliner Krankenhäuser reichen von 95 000 bis 130 000 Vergewaltigungsopfern. Ein Arzt vermerkt, daß von den 100 000 vergewaltigten Frauen in Berlin etwa 10 000 verstarben, die meisten von ihnen begingen Selbstmord. Noch höher lag die Todesrate bei den 1,4 Millionen vergewaltigten Frauen in Ostpreußen, Pommern und Schlesien.46 Der englische Schriftsteller An-tony Beevor, der diese Zahlen und weitere Fakten anführt, resümiert:

Das Bild von sowjetischen Soldaten, die zusammengekauerten Frauen in den Bunkern mit ihren Taschenlampen ins Gesicht leuchten, um ihre Opfer auszuwählen, scheint auf alle sowjetischen Armeen zuzutreffen, die an der Schlacht um Berlin beteiligt waren.47

Zahlreiche Angaben zu den Verbrechen der Roten Armee finden sich auch in den Büchern des amerikanischen Flistorikers Norman Naimark.48

Weniger bekannt ist dagegen, daß sich die sowjetischen Soldaten und Offiziere auch an russischen, ukrainischen und weißrussischen Frauen und Mädchen vergingen, die aus deutschen Konzentrationslagern befreit worden waren. Die meisten von ihnen waren im Alter von 14 bis 16 Jahren nach Deutschland zwangsverschleppt worden. Auch viele Menschen aus Westeuropa waren hiervon betroffen. Im April 1945 legte Generaloberst F. Golikow, der Beauftragte der Regierung der UdSSR für die Repatriierung sowjetischer Bürger, Malenkow einen schriftlichen Bericht über die Verbrechen der Samlander Gruppe der Streitkräfte in Ostpreußen vor.

44 Zitiert nach E. ZIROVA: »Casi naselenija koncaet iizn'samoubijstvom«. Donesenija Stalinskick specsluzb (»Ein Teil der Bevölkerung beendet ihr Leben mit Selbstmord«. Meldungen der Stalinschen Sonderdienste). In: Vlast' 2000, Nr. 6, S. 45-47; Rückübersetzung aus dem Russischen.

45 EBD., S. 46.

46 ANTONY BEEVOR: Berlin. The downfall, 1945. London 2002, S. 410; deutsch zitiert nach DERS.: Berlin 194}. Das Ende. München 2002, S. 445.

47 EBD., S. 326; dt. S. 356.

48 Vgl. NORMAN M. NAIMARK: Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 194} bis 1949. München 2000.

Am 4. Februar entdeckten Major Sljuntjajew, der Vertreter des Kommandeurs der 192. Schützendivision des 298. Artillerieregiments, und Major Mubarakow, der Kommandeur einer Abteilung dieses Regiments, bei der Standortauswahl für den Gefechtsstand der Abteilung in der Baracke eines Herrenhauses acht Männer und eine Frau. Die Frau die gut Russisch konnte, gab an, daß sie Lettin ist und von den Deutschen aus Riga zwangsverschleppt wurde und daß die Männer Franzosen seien. Am Abend veranstalteten Sljuntjajew und Mubarakow ein Trinkgelage und luden sie zu sich in den Unterstand ein. Der angetrunkene Major Sljuntjajew nahm sich die Rotarmisten Tschawkin und Romanow zur Hilfe, unterzog die Franzosen einer Leibesvisitation, beschlagnahmte ihre Wertgegenstände und befahl, sie zu erschießen. Die Rotarmisten eröffneten das Feuer aus Maschinengewehren und Sljuntjajew aus einer Pistole. Als sie in den Unterstand zurückkamen, vergewaltigten die genannten Militärangehörigen nacheinander die Lettin. Am 5. Februar wurden in der Baracke die Leichen von drei Franzosen entdeckt, die übrigen fünf waren offensichtlich mit dem Leben davongekommen und untergetaucht. Da Major Mubarakow befürchtete, daß die Frau über den Vorfall Meldung erstatten würde, befahl er, auch sie zu erschießen, die Erschießung führte der Rotarmist Tschawkin

aus.49

Auch der Sekretär des Leninschen Kommunistischen Jugendverbands N. Michaj-low geht in seinem Bericht an Georgij Malenkow vom 29. März 1945 auf das Thema Vergewaltigungen ein.

In einem Wohnheim in Bunzlau (heute Boleslawiec, Polen - d. Red.), in dem mehr als hundert befreite Frauen und junge Mädchen leben, »kommt es immer wieder zu Belästigungen, Erniedrigungen und sogar Vergewaltigungen durch einzelne Militärangehörige, die vorwiegend nachts in das Wohnheim eindringen und die hier lebenden Mädchen und Frauen buchstäblich terrorisieren.« Am 5. März hielten sich spät abends an die 60 Armeeangehörige, hauptsächlich aus der 3. Gardepanzerarmee, in dem Wohnheim auf. Sie waren fast alle betrunken und bedrängten und erniedrigten die Mädchen. Obgleich der Kommandant sie kategorisch aufforderte, das Wohnheim zu verlassen, setzten die Panzersoldaten ihre Randale fort, bedrohten die Frauen mit Waffen und zettelten eine Schlägerei an. Die von dem Kommandanten geschickte Streife nahm keinen der Rowdies fest. Erst am Morgen wurde im Wohnheim ein volltrunkener Panzersoldat entdeckt, dem in der Nacht Uniform und Pistole gestohlen worden waren. Die Mädchen gaben an, daß sich »diese Vorkommnisse Nacht für Nacht wiederholen«. Noch »verheerendere und empörendere« Vorfälle tragen sich in der Militärkommandatur der Stadt Eis zu. Hier betrachtet der Politstellvertreter des Kommandanten Kapitän Balajan die »befreiten Mädchen und Frauen als >Menschen zweiter Klasse«. Er erklärte beispielsweise: »Sollen sie doch machen, was sie wollen, und schlafen, mit wem sie wollen, wenn hierdurch nur kein Aufsehen erregt wird.« In der Nacht vom 23. zum 24. Februar kam eine Gruppe betrunkener Offiziere und Offizierschüler in das Vorwerk Grutenberg und begann dort zu randalieren und sich an den dort anwesenden Frauen und Mädchen zu vergehen. In der Nacht vom 14. zum 15. Februar tauchte in einem Vorwerk, in dem Viehzucht betrieben wurde (Leiter dieses

49 Schriftlicher Bericht von Generaloberst F. Golikow, Beauftragter des Rates der Volkskommissare der UdSSR über die Repatriierung von Bürgern der UdSSR an G. M. Malenkow vom 3. April 1945. RGASPI, f. 17, op. 125, d. 314, Bl. 27-28.

 

Vorwerks war Kapitän Karimow) eine Strafkompanie unter Leitung von Oberleutnant (Name wird nicht genannt) auf, umzingelte das Vorwerk, stellte Maschinengewehre auf und beschoß und verwundete einen Rotarmisten, der das Wohnheim bewachte. Anschließend wurden systematisch alle befreiten Frauen und Mädchen, die sich in dem Vorwerk aufhielten, vergewaltigt.50

Wie kam es zu dieser in der Geschichte der Kriege beispiellosen Haltung der Soldaten und Offiziere der Wehrmacht wie der Roten Armee gegenüber der Zivilbevölkerung?

RECHTFERTIGUNGSGRUNDLAGE FÜR DIE

VERBRECHEN DER WEHRMACHT

Am 30. März 1941, d.h. zweieinhalb Monate vor Beginn des Unternehmens »Barbarossa«, hielt Hitler vor 250 Generälen und Truppenbefehlshabern eine Geheimrede, in der er seine rassenideologischen Ansichten und Pläne für einen Angriffskrieg darlegte. Hierin bezeichnete er den Bolschewismus als »asoziales Verbrechertum« und kündigte einen »Vernichtungskampf« an, bei dem jegliche Formen des »soldatischen Kameradentums mit dem Feind« untersagt seien. Der Krieg im Osten solle sich »in allem vom Kampf im Westen unterscheiden«: Anvisiert sei die »Vernichtung der bolschewistischen Kommissare und der kommunistischen Intelligenz«.51

Während des Nürnberger Prozesses legte Oberst Taylor (USA) erstmals den vom Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Keitel, unterzeichneten Hitlererlaß »Über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet Barbarossa und über besondere Maßnahmen der Truppen« vom 13. Mai 1941 sowie die »Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland« vom 19. Mai 1941 vor, worin den deutschen Soldaten Straffreiheit für ihr schonungsloses Vorgehen bei der Durchführung des Unternehmens »Barbarossa« zugesichert wurde. Besonders aufschlußreich sind folgende Punkte des Befehls:

II1. Für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges gegen feindliche Zivilpersonen begehen, besteht kein Verfolgungszwang, auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen oder Vergehen ist.

50 EBD., Bl. 40-43.

51 Auszug aus Hitlers Ausführungen vom 30. März 1941 nach den Aufzeichnungen von Generaloberst Halder. Zitiert nach: UEBERSCHÄR/WETTE: »Unternehmen Barbarossa" (wie Anm. 13), S.248f.; vgl. auch JÜRGEN FÖRSTER: Das Unternehmen«Barbarossa«. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 4: Der Angriff auf die Sowjetunion, Stuttgart 1983, S. 413-447.

3. [...] Der Gerichtsherr ordnet die Verfolgung von Taten gegen Landeseinwohner im kriegsgerichtlichen Verfahren nur dann an, wenn es die Aufrechterhaltung der Manneszucht oder die Sicherung der Truppe erfordert.52

Bereits Anfang Mai 1941, also noch vor Erlaß dieser Direktiven, bereitete das Kommando der Landstreitkräfte einen Entwurf entsprechender Verfügungen vor. Hierin wird die Außerkraftsetzung jeglicher Normen und Regeln der Kriegführung damit begründet, daß den Truppen in der UdSSR angeblich ein »besonders gefährliches und ordnungszersetzendes Element aus der Zivilbevölkerung« gegenüberstehe, »das Träger der jüdisch-bolschewistischen Weltanschauung ist«. In dem Dokument wird hervorgehoben:

Es besteht kein Zweifel daran, daß es seine zersetzenden Waffen gegen die Kampfhandlungen der Wehrmacht bei der Befriedigung des Landes überall dort hinterlistig und heimtückisch einsetzen wird, wo es nur kann.53

In einer Verfügung zum Umgang mit den Geheimmaterialien vom 27. Juli 1941 wies Keitel die Frontstäbe an, sämtliche Kopien des Führerbefehls vom 13. Mai zu vernichten. Trotz dieser Anweisung blieb der Befehl selbst jedoch in Kraft.

Erwähnenswert ist noch die »Ergänzung zur Weisung 33« von Alfred Jodl, die am 23. Juli 1941, d.h. einen Monat nach Kriegsbeginn, von Keitel unterzeichnet wurde:

Die zur Sicherung der eroberten Ostgebiete zur Verfügung stehenden Truppen reichen bei der Weite dieser Räume nur dann aus, wenn alle Widerstände nicht durch die juristische Bestrafung der Schuldigen geahndet werden, sondern wenn die Besatzungsmacht denjenigen Schrecken verbreitet, der allein geeignet ist, der Bevölkerung jede Lust zur Widersetzlichkeit zu nehmen. [...] Nicht in der Anforderung weiterer Sicherheitskräfte, sondern in der Anwendung drakonischer Maßnahmen müssen die entsprechenden Befehlshaber das Mittel finden, um ihre Sicherungsräume in Ordnung zu halten.54

Nach Auffassung von Manfred Messerschmidt wurde der »Sinn des Krieges und das geforderte soldatische Verhalten« insbesondere durch die Befehle der beiden Armeeoberbefehlshaber v. Reichenau und v. Manstein erläutert.55 Am 10. Juli 1941 unterzeichnete der Oberbefehlshaber der 6. Armee von Reichenau den Befehl »Über die Behandlung des Gegners«:

52 EBD., S. 252.

53 Zitiert nach D. AJCHCHOL'C: Celi Germanii v vojneprotiv SSSR. In: Novaja i novejsaja istorija 2002, Nr. 6, S. 86; deutsch Der Fall Barbarossa. Dokumente zur Vorbereitung der faschistischen Wehrmacht auf die Aggression gegen die Sowjetunion (1940-1941). Ausgewählt und eingeleitet von Erhard Moritz. Berlin (Ost) 1970, Dokument 93, S. 308. Erlaßentwurf des Oberbefehlshabers des Heeres, Anfang Mai 1941.

54 Ergänzung zur Weisung Nr. 33 vom 23. Juli 1941, abgedruckt in WALTHER HUBATSCH (Hrsg.): Hitlers Weisungen für die Kriegsführung. 1939-1945. Dokumente des Oberkommandos der Wehrmacht. Frankfurt a.M. 1962, S. 144.

55 MANFRED MESSERSCHMIDT: Der Kampf der Wehrmacht im Osten als Traditionsproblem. In: Ueberschär/Wette: »Unternehmen Barbarossa« (wie Anm. 13), S. 225-237; hier S. 225.

Soldaten in Zivil, meist schon erkenntlich an kurz geschnittenem Haar, sind nach Feststellung, daß sie rote Soldaten sind, zu erschießen.

Das Gleiche galt für Zivilisten,

welche in Haltung oder Handlung sich feindlich einstellten, insbesondere die Rote Armee unterstützen.

Ein Befehl vom 19. Juli des gleichen Jahres schrieb vor, Häuser von Russen und Juden abzubrennen,

und am 10. Oktober verlangte der Oberbefehlshaber »drakonische Maßnahmen«, um »das deutsche Volk von der asiatisch-jüdischen Gefahr« ein für allemal zu befreien.56

General Hermann Hoth hob in einem Armeebefehl vom 17. November 1941 hervor, daß im Kampf gegen die Russen »Versöhnung ausgeschlossen ist«, denn

Mitleid und Weichheit gegenüber der Bevölkerung ist völlig fehl am Platz [...] Jede Spur aktiven oder passiven Widerstandes oder irgendwelcher Machenschaften bolschewistischjüdischer Hetzer ist sofort erbarmungslos auszurotten. Die Notwendigkeit harter Maßnahmen gegen volks- und artfremde Elemente muß gerade von den Soldaten verstanden werden.57

Die Ermordung von Frauen und Kindern wurde vom Oberkommando der Wehrmacht nicht nur nicht verhindert, sondern direkt vorgeschrieben. In einigen Dokumenten ist die organisierte Ermordung von Kindern als Kampfmaßnahme gegen die Partisanenbewegung dargestellt. So wird im Befehl des Kommandeurs der 254. Division Generalleutnant von Behschnitt vom 2. Dezember 1941 die Tatsache, daß sich alte Leute, Frauen und Kinder jeden Alters »hinter den deutschen Linien bewegen«, als »fahrlässiger Leichtsinn« bezeichnet und die Anordnung getroffen,

ohne Vorwarnung auf alle Zivilisten, gleich welchen Alters und Geschlechts, zu schießen, die sich der Frontlinie nähern.

Ebenso sollen

die Bürgermeister dafür verantwortlich gemacht werden, daß dem örtlichen Kommandanten fremde Personen, insbesondere Kinder, unverzüglich gemeldet werden

und

jede spionageverdächtige Person unverzüglich erschossen wird.58

Die Historiker Bernd Boll und Hans Safrian, die den Weg der 6. Armee von Stryj bis an die Wolga nachzeichnen, konstatieren:

56 Zitiert nach BERND BOLL/HANS SAFRIAN: Auf dem Weg nach Stalingrad. Die 6. Armee 1941/42. In: Vernichtungskrieg (wie Anm. 8), S. 260-296; hier S. 268, 283. Der Reichenau-Befehl auch in UEBER-SCHÄR/WETTE: »Unternehmen Barbarossa" (wie Anm. 13), S. 285f.

57 Zitiert nach UEBERSCHÄR/WETTE: »Unternehmen Barbarossa« (ebd.), S. 288.

58 EBD.

Weder ethnische Zugehörigkeit noch politische Überzeugung, weder angstvolle Passivität noch aktive Kollaboration konnte die Zivilbevölkerung davor bewahren, jederzeit nach der taktischen Lage zum Objekt von Repressalien zu werden. Sie war in ihrer Gesamtheit zur Geisel der Wehrmacht geworden.59

Allerdings blieb es nicht bei diesen Befehlen. Bereits im Dezember 1941 war nicht mehr zu übersehen, daß der »Blitzkrieg« gescheitert war, die Angriffsoperationen auf Moskau wurden unterbrochen. Einige Militärhistoriker wie z.B. Omar Bartow vertreten die Ansicht, daß sich der Charakter der militärischen Handlungen von dieser Zeit an veränderte.

Es war genau zu diesem Zeitpunkt, daß sich die Wehrmacht mitten in einem Wandlungsprozeß befand und von einer hochentwickelten, technologisch ausgerichteten »Blitzkriegs-Armee« zu einem fanatischen, irrationalen, ideologisch motivierten Werkzeug eines verbrecherischen Regimes wurde.60

Die Tatsache, daß der Krieg Ende 1941 in eine neue Phase trat, ist unbestreitbar. Dies bedeutet jedoch nicht, daß er und das Vorgehen der Wehrmacht zuvor nicht als barbarisch zu bezeichnen gewesen wären. 1942 unterstrich die nationalsozialistische Führung in einer rigorosen Direktive, die keine Ausnahmen zuließ, erneut, daß die Verbrechen der Militärangehörigen an der Zivilbevölkerung nicht strafrechtlich verfolgt werden. In der am 16. Dezember 1942 von Keitel unterzeichneten Weisung zur Bandenbekämpfung heißt es:

Dem Führer liegen Meldungen vor, daß einzelne in der Bandenbekämpfung eingesetzte Angehörige der Wehrmacht wegen ihres Verhaltens im Kampf nachträglich zur Rechenschaft gezogen worden sind. Der Führer hat hierzu befohlen: »Wenn dieser Kampf gegen die Banden [...] im Osten [...] nicht mit den allerbrutalsten Mitteln geführt wird, so reichen in absehbarer Zeit die verfügbaren Kräfte nicht mehr aus, um dieser Pest Herr zu werden. Die Truppe ist daher berechtigt und verpflichtet, in diesem Kampf ohne Einschränkung auch gegen Frauen und Kinder jedes Mittel anzuwenden, wenn es nur zum Erfolg führt.«61

Wolfram Wette befaßt sich mit der Frage, ob die Befehle der Generäle auch den einfachen Soldaten, den »kleinen Mann in Uniform« erreichten. Woran glaubte der »kleine Mann«?

Als Bürger des NS-Staates hatten Angehörige der Wehrmacht seit den 30er Jahren Anteil an der täglichen propagandistischen Berieselung. Mit dem Beginn des Rußlandkrieges nahm die Sprache der Propaganda hinsichtlich der Juden immer aggressivere Züge an. Vom »jüdischen Weltfeind« war nun die Rede, der »vernichtet« werden müsse. Mehrfach wiederholte Hitler seine absurde Behauptung,

59 BOLL/SAFRIAN: Auf dem Weg nach Stalingrad (wie Anm. 56), S. 289.

60 OMAR BARTOV: Brutalität und Mentalität. Zum Verhalten deutscher Soldaten an der »Ostfront*. In: PETER JAHN/REINHARD RÜRUP: Erobern und Vernichten. Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941-1945. Berlin 1991, S. 183-189; hier S. 187.

61 NP, russ. Bd. 5, S. 117; dt. Bd. 7, S. 538.

die Juden seien die Urheber des Krieges gegen das Reich. Ebenso ging die Propaganda daran, das in Deutschland ohnehin seit langem vorhandene Überlegenheits-gefiihl gegenüber den slawischen Ostvölkern rassistisch zu begründen und damit zu verstärken.62

Der ideologischen Beeinflussung der Wehrmacht dienten auch die von deren Oberkommando, Abteilung Wehrmachtpropaganda, herausgegebenen Pressematerialien. Vom Inhalt dieser Informationsblätter wurden die Soldaten aller Kompanien in Kenntnis gesetzt. Die kurz nach dem Überfall auf die UdSSR erschienene Ausgabe enthält folgende Passage:

Es geht darum, das rote Untermenschentum, welches in den Moskauer Machthabern verkörpert ist, auszulöschen. Das deutsche Volk steht vor der größten Aufgabe seiner Geschichte. Die Welt wird erleben, daß diese Aufgabe restlos gelöst wird.63

Im Juni/Juli 1941 präsentierte die nationalsozialistische Propaganda »dem deutschen Leser und Hörer ein Bild des Sowjetstaates, das von pervertierter Roheit und Brutalität strotzte und jede nüchterne Betrachtung ausschloß. Der Informationsdienst des Propagandaministeriums hatte sämtliches Material über die Verbrechen und Vergehen des Sowjetkommunismus - Verfolgung der Geistlichkeit, der Intellektuellen, die verschiedenen Säuberungsaktionen der Partei, der Armee, Tätigkeit der GPU usw. - gesammelt und die Presse angewiesen, dieses als geballte Ladung, zusammen mit Bildern und Schilderungen über primitive Lebensverhältnisse in der UdSSR, den Deutschen vorzusetzen.«64

Nach Aussage von Hauptmann Julius Reichhof, Vorsitzender des Divisions-Kriegsgerichts der 267. Schützendivision, hatte die Wehrmacht die Befehle und ideologischen Weisungen aus dem Jahr 1941 verinnerlicht.

Für die strafbaren Handlungen deutscher Soldaten gegenüber Sowjetbürgern konnten die Soldaten nach Hitlers Befehl nicht vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Ein Soldat konnte nur vom Kommandanten seiner Abteilung, falls dieser es für notwendig hielt, bestraft werden. Im gleichen Befehl räumte Hitler den Offizieren der Deutschen Wehrmacht noch viel größere Vollmachten ein. Sie konnten die russische Bevölkerung nach ihrem eigenen Ermessen ausrotten. Der Kommandant hatte das unbeschränkte Recht, über die Zivilbevölkerung Strafmaßnahmen zu verhängen, so zum Beispiel ganze Städte und Dörfer in Brand zu stecken, die Bevölkerung ihres Viehes und ihrer Lebensmittel zu berauben sowie die Sowjetbürger zur Sklavenarbeit nach Deutschland zu verschicken.

62 V. VETTE [W. WETTE]: Vojna na unictoienie. Vermacht i cbolokost (Vernichtungskrieg. Wehrmacht und Holocaust). In: In: Novaja i novejsaja istorija 1999, Nr. 3, S. 102f.; vgl. auch W. WETTE: Die Wehrmacht. Frankfurt 2002, S. 156ff.

63 Mitteilungen für die Truppe, hrsg. vom Oberkommando der Wehrmacht/WFSt/WPr(Iie), Nr. 112, Juni 1941. Zitiert nach VETTE: Vojna na unictoienie (ebd.), S. 103; vgl. W. WETTE: Wehrmacht (ebd.), S. 103.

64 MARLIS G. STEINERT: Hitlers Krieg und die Deutschen. Stimmung und Haltung der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg. Düsseldorf und Wien 1970, S. 209f.

65 NP, russ. Bd. 5, S. 115f.; dt. Bd. 7, S. 537.

Diese Angaben bestätigte auch Obergruppenführer Erich Bach-Zelewski bei seiner Vernehmung während des Nürnberger Prozesses. Auf die Frage, ob es irgendwelche Befehle zur Behandlung der Zivilbevölkerung und der Partisanen gegeben habe, antwortete er, daß dies nicht der Fall war und daß das Fehlen direkter Verordnungen der Willkür des Kommandeurs der Truppe Vorschub leistete; dieser hatte das Recht, jeden Menschen als Partisanen zu bezeichnen und dementsprechend zu behandeln. Auf die zweite prinzipielle Frage, ob die Wehrmachtsführung von den Methoden wußte, die zur Bekämpfung der Partisanenbewegung und zur Ausrottung der jüdischen Bevölkerung angewandt wurden, antwortete der Zeuge kurz: »Die Methoden waren allgemein bekannt, also auch bei der militärischen Führung«.66

Die Wehrmachtsangehörigen kannten also die brutalen Kriegsziele und hatten das antirussische, antibolschewistische Feindbild, das sich bereits lange vor dem Krieg herausgebildet hatte, übernommen. Nicht ohne Grund heißt es in der Note des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR vom 6. Januar 1942, d.h. ein halbes Jahr nach dem Angriff auf die UdSSR:

Unumstößliche Tatsachen bezeugen, daß das Regime des Raubes und des blutigen Terrors gegen die friedliche Bevölkerung der besetzten Dörfer und Städte nicht aus irgendwelchen Exzessen einzelner undisziplinierter Truppenteile oder einzelner deutscher Offiziere und Soldaten besteht. Es stellt vielmehr ein bestimmtes System dar, das im voraus geplant und von der deutschen Regierung und der deutschen Armeeführung gefördert wurde und in ihrer Armee, unter den Offizieren und Soldaten, mit Vorbedacht die niedrigsten tierischen Instinkte entfesselte.67

STALINS DIREKTIVEN AN DIE ROTE ARMEE

Seitens der UdSSR gab es keine offiziellen Richtlinien über einen Vernichtungskrieg, dem die brutale Absicht zugrundelag, die deutsche Zivilbevölkerung als niedere und minderwertige Rasse auszurotten. Allerdings weckten die deutsche Besatzungspolitik und die Kriegsopfer bei den Soldaten der Roten Armee Rachegelüste, Verbitterung und Haßgefühle. In zahlreichen Artikeln, Reportagen und Berichten wurden der »bestialische« Charakter des Feindes behandelt und die sowjetischen Soldaten und Offiziere zur möglichst schnellen Vertreibung und Vernichtung der deutschen Armee aufgerufen. Ilja Ehrenburgs Appell »Töte den Deutschen« setzte nicht einfach nur ein zeichenhaftes Kriegssignal, sondern drang tief in das Bewußtsein der Soldaten der Roten Armee ein. Der weitere Verlauf des Krieges stellte die sowjetische Führung somit vor die brisante Frage, auf welche Haltung ihre Streitkräfte gegenüber den deutschen Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung

66 NP, russ. Bd. 5, S. 279; dt. Bd. 4, S. 537ff.

67 NP, russ. Bd. 5, S. 82f.; dt. Bd. 7, S. 485f.

eingestimmt werden sollte. Daß sie hierbei in der Armee auf Widerstand stoßen würde, war bereits im Herbst 1944 abzusehen, als 300000 sowjetische Soldaten in das serbische Gebiet Jugoslawiens einrückten. Milovan Djilas berichtet, daß die jugoslawischen Kommunisten über Gewaltanwendung und Plünderungsaktionen der sowjetischen Soldaten entsetzt waren. Den jugoslawischen Behörden wurden 121 Fälle von Vergewaltigung, von denen 111 auch dem Tatbestand des Mordes entsprachen, und 1204 Fälle von Plünderung in Verbindung mit Gewalttätigkeit gemeldet.68 Alle Angaben über Ausschreitungen wurden an General Kornejew, dem Leiter der sowjetischen Mission in Jugoslawien, weitergemeldet. Djilas führte aus, daß die Gegner der Kommunisten diese Vorfälle zum Anlaß nahmen, das korrekte Verhalten der englischen Soldaten in Jugoslawien herauszustellen. Die Antwort des Generals lautete:

Ich protestiere in schärfster Form gegen die Beleidigung, die der Roten Armee dadurch zugefügt wird, daß man sie mit den Armeen der kapitalistischen Länder vergleicht!69

Am 29. Oktober 1944 richtete Tito einen persönlichen Brief an Stalin, worin er erklärte, daß

unsere Armee und unser Volk Bitterkeit empfinden über die zahlreichen Vergehen einzelner Soldaten und Offiziere der Roten Armee, da sie die Rote Armee vergöttern, sie idealisieren ...

Am 31. Oktober reagierte Stalin mit einem wütenden Telegramm, in dem er sich unter anderem darüber empörte, daß trotz der enormen Opfer auf sowjetischer Seite bei der Unterstützung Jugoslawiens vereinzelt aufgetretene Vorfälle und Vergehen einzelner Offiziere und Soldaten der Roten Armee verallgemeinert und als typisch für die gesamte Streitmacht beschrieben werden.70 Und einige Monate später, im Januar 1945 stellte der Generalissimus im Gespräch mit Mitgliedern einer jugoslawischen Delegation unter Leitung von Industrieminister Andrija Hebrang folgende rhetorische Frage: Ist es so schwer zu verstehen, daß

ein Soldat, der Tausende von Kilometern durch Blut und Feuer und Tod gegangen ist, an einer Frau seine Freude hat oder irgendeine Kleinigkeit mitgehen läßt?71

Dennoch unterzeichnete Stalin am 19. Januar 1945 einen Befehl, in dem er sich gegen die grobe Behandlung der Bevölkerung in den befreiten Gebieten aussprach. Dieser Befehl wurde an die Soldaten weitergeleitet; die Militärräte der Fronten, die Befehlshaber der Armeen, die Kommandeure der Divisionen und anderer

68 M. DZILAS: Lico totalitarizma. Moskau 1992, S. 67; deutsch zitiert nach MILOVAN DJILAS: Gespräche mit Stalin. Übersetzt nach der vom Verfasser autorisierten amerikanischen Ausgabe von Hermann Junius. Frankfurt a.M. 1962, S. 115.

69 EBD.

70 JURIJ S.GIRENKO: Stalin - Tito. Moskau 1991, S. 254ff.

71 DZILAS: Lico totalitarizma (wie Anm. 68), S. 71 f.; dt. S. 123.

Verbände erließen entsprechende Anordnungen.72 Im Februar 1945 veröffentlichte die sowjetische Führung in der Zeitschrift »Bolschewik«, dem Presseorgan des ZK der WKP (b), einen beschwichtigenden Artikel von Michail Kalinin, in dem dieser Stellung nahm zu der in der amerikanischen Presse geäußerten Befürchtung, daß Ehrenburgs Haßappelle gegen die Deutschen bei einem Übergriff des Krieges auf Deutschland zu Exzessen gegen die Zivilbevölkerung führen würden.73 Nachdem es im März auch in Polen zu »Randalen, Diebstählen und weiteren Vorfällen« gekommen war74, warf Stalin den Regierungen anderer Länder nicht mehr »die Verleumdung der Roten Armee« vor.

Beim Empfang einer tschechoslowakischen Delegation am 28. März hielt er nach mehreren Trinksprüchen auf die Rote Armee folgende Rede:

Alle loben unsere Rote Armee. Ja, das hat sie auch verdient. Aber ich wünschte mir, daß unsere Gäste, die jetzt \^>n der Roten Armee begeistert sind, später nicht enttäuscht werden. Die Sache ist die, daß zur Zeit ungefähr 12 Millionen Menschen der Roten Armee angehören. Diese Menschen sind keineswegs Engel. Diese Menschen sind während des Krieges verroht. Viele von ihnen haben in Kämpfen 2000 Kilometer zurückgelegt: von Stalingrad bis in die Tschechoslowakei. Sie haben auf ihrem Weg viel Kummer und Greuel gesehen. Daher wundern Sie sich nicht, wenn sich einige unserer Leute in Ihrem Land nicht anständig benehmen. Uns ist bekannt, daß einige verantwortungslose Soldaten junge Mädchen und Frauen belästigen und sie erniedrigen, sich flegelhaft benehmen. Mögen unsere Freunde, die Tschechoslowaken, dies jetzt wissen, damit ihre Begeisterung für unsere Rote Armee nicht in Enttäuschung umschlägt.75

Diese besorgten Äußerungen Stalins sowie auch die Beschlüsse der Jaltakonferenz über Deutschland erklären die scharfe Zurechtweisung und zeitweise Ächtung Ilja Ehrenburgs. Ausgelöst wurde diese durch dessen Artikel »Es reicht!« (Chwatit!), der am 11. April 1945, also kurz vor dem Sturm auf Berlin, in der Zeitung »Krasnaja swesda« (Roter Stern) erschienen war. Trotz aller publizistischen Vielschichtigkeit wirken einige Passagen dieses Artikels, in denen sich Ehrenburg zu den Verbrechen der Deutschen äußert, wie ein Kampfaufruf:

Kummer unserer Heimat, Kummer aller Waisen, unser Kummer - du bist mit uns an diesen Tagen der Siege, du schürst das Feuer der Unversöhnlichkeit, du weckst das Gewissen der Schlafenden, du wirfst Schatten, den Schatten der verunstalteten Birke, den Schatten des Galgens, den Schatten der weinenden Mutter auf dem Frühling des Friedens.

72Bol'sevik l945, Nr.2, S.5.

73 EBD., S. 6.

74 Bericht des Militärkorrespondenten des Sowinformbüro an der Weißrussischen Front Ponamarev an den Sekretär des ZK der VKP (b) G. Malenkov vom 7. März 1945. RGASPI, f. 17, op. 125, d. 314, Bl. 27-28.

75 »Projdet desjatok let, i eti vstreci ne vosstanovis' uze v pamjati ...« Dnevnikovaja zapis' ministra Malyseva ot 28 marta 1945 g. (»Jahrzehnte vergehen, und diese Treffen nicht in Erinnerung bleiben .. .«.Tagebuchnotiz von Minister Malysev am 28. März 1945). In: Istocnik 1997, Nr. 5, S. 127.

Als höchst eindrucksvoll erwies sich auch seine »Blut und Tränen«-Statistik, für die 2103 Personen aus einem Verband der Roten Armee befragt worden waren:

An der Front gefallene Verwandte: 1288

Erschossene und erhängte Frauen, Kinder und Verwandte: 532

Nach Deutschland zwangsverschleppt: 393

Verprügelte Verwandte: 222

Geplünderte und zerstörte Haushalte: 314

Verbrannte Häuser: 502

Konfiszierte Kühe, Pferde und Kleinvieh: 630

Als Invaliden von der Front zurückgekehrte Verwandte: 201

Selber in der Besatzungszone verprügelt: 161

An der Front verwundet: 1268.76

Zwei Tage später, am 14. April, erschien in der »Prawda« unter der Überschrift »Genosse Ehrenburg vereinfacht« (Towarischtsch Ehrenburg uproschtschajet) ein offensichtlich mit Stalin abgesprochener Artikel von Georgij F. Alexandrow, Chef der Abteilung für Agitation und Propaganda des ZK WKP (b). Unter Bezugnahme auf Stalins Äußerung vom 23. Februar 1942, daß die »Hitlers kommen und gehen, das deutsche Volk, der deutsche Staat aber bestehen bleiben«77, stellt Alexandrow Ehrenburgs Kampfaufruf folgenden offiziellen Standpunkt gegenüber:

- Ehrenburgs Behauptung, daß »alle Deutschen gleich sind und gleichermaßen für die Verbrechen der Hitlerfaschisten zur Verantwortung gezogen werden«, sowie seine Feststellung, daß »es Deutschland nicht mehr gibt, sondern nur eine riesige Bande, die auseinanderläuft, sobald es um Verantwortung geht«, entsprechen nicht den Tatsachen.

- Es gibt kein einheitliches Deutschland, nicht alle Deutschen verhalten sich gleich, die Bevölkerung soll nicht »das Schicksal der Hitlerclique teilen«.

- Bei der Erfüllung seiner großen Befreiungsmission »geht und ging es der Roten Armee zu keinem Zeitpunkt darum, das deutsche Volk auszurotten«78.

Unmittelbar nach der Veröffentlichung dieses Artikels erließ das Hauptquartier des Oberkommandos am 20. April 1945, also zu Beginn der Berlin-Offensive, eine klare und militärisch motivierte Direktive an die Befehlshaber der Truppen und Mitglieder der Militärräte der 1. Weißrussischen und 1. Ukrainischen Front »Über die Änderung der Haltung gegenüber den deutschen Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung«. Punkt 1 dieser Direktive lautet:

Fordern Sie, ihr Verhalten gegenüber den deutschen Kriegsgefangenen und auch gegenüber der Zivilbevölkerung zu ändern. Behandelt die Deutschen besser. Das brutale Vorgehen

76 IL'JA ERENBURG. Sobmnie socinenij (Gesammelte Werke). 8 Bde. Moskau 1990-2000; hier Bd. 5, S.203ff.

77 I. V. STALIN: O Velikoj Otecestvennoj vojne Sovetskogo Sojuza. Moskau 1949, S. 46.

78 Pravda vom 14. April 1945.

gegenüber den Deutschen erzeugt bei ihnen Angst und zwingt sie zu beharrlichem Widerstand, um der Kriegsgefangenschaft zu entgehen. Die Zivilbevölkerung organisiert sich aus Angst vor Vergeltung in Banden. Diese Situation ist für uns ungünstig. Eine humanere Haltung zu den Deutschen würde uns die Kampfführung erleichtern und die Hartnäckigkeit der Deutschen bei der Verteidigung zweifellos verringern.79

Auch Marschall Shukow ermahnte seine Truppen, sich während der Offensive und Besatzung auf ihre militärischen Pflichten zu konzentrieren:

Soldaten, achtet darauf, wenn ihr die Rocksäume deutscher Mädchen betrachtet, daß ihr darüber nicht vergeßt, warum euch die Heimat hierher geschickt hat.80

Betrachtet man einerseits Stalins inoffizielle Äußerungen, die von ihm unterzeichneten Befehle, seine offiziellen Reden und Artikel in der sowjetischen Presse und andererseits die Organisation, Planung und zeitliche Abstimmung ihrer Realisierung, so entsteht ein widersprüchlicher Eindruck: Die Mahnungen waren eine Sache, ihre Durchsetzung eine andere. Vermutlich wurden sie so auch von den Rotarmisten aufgenommen. Norman Naimark verweist beispielsweise darauf, daß viele der am Straßenrand postierten Parolen eine andere Sprache als die offizielle Botschaft aus Moskau sprachen.

»Hier ist es, das verfluchte Deutschland«, stand auf den sowjetischen Plakaten an der polnisch-pommerschen Grenze. »Hier ist sie, die Höhle der Faschisten - Berlin!«81

Aus der Memoirenliteratur ist bekannt, daß die Soldaten kurz vor dem Winterangriff 1945 die Genehmigung erhielten, einmal pro Monat ein oder zwei Acht-Kilo-Pakete nach Hause zu schicken, den Offizieren wurde sogar das doppelte Gewicht zugestanden. War dies etwa keine unmißverständliche Aufforderung für künftige Marodeure und keine Ermunterung zu rauben?

Generalleutnant Fjodor I. Bokow, der spätere Chef des Militärrats der Sowjetischen Militäradministration, notiert:

War es denn so verwunderlich, daß sie sich rächen wollten? Von der Losung »Tod den deutschen Okkupanten« bis zu einer differenzierten Einstellung jedes einzelnen gegenüber der deutschen Bevölkerung war es ein weiter Weg.82

Auch der spätere Oberbefehlshaber der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, Wassilij I. Tschujkow, vermerkt, daß die Soldaten beim Einmarsch seiner Armee nach Deutschland immer noch nicht in der Lage waren,

79 Vgl. SEMIRJAGA: Kok my upravljali Germaniej (wie Anm. 12), S. 314f.

80 Zitiert nach B. N. OL'SANSKIJ: My prkhodili s vostoka (Wir kamen aus dem Osten). Serija Nikolaevskogo. Nr. 177, NIA, S.231.

81 NAIMARK: Die Russen in Deutschland (wie Anm. 48), S. 101.

FJODOR JE. BOKOW: Frühjahr des Sieges und der Befreiung. Berlin (Ost) 1979, S. 187; russisch F. E.

BOKOV: Vesnapobedy. Moskau 1979.

das [deutsche] Volk vom Faschismus und dessen Führer, Hitler, zu trennen«.83

»KRIEGSERFORDERNISSE« UND VERHALTENSSTEREOTYPE

In deutschen wie russischen Forschungen zum Krieg wird immer wieder die Auffassung geäußert, daß einige Abweichungen vom Kriegsrecht gerechtfertigt seien, da sie durch »die Erfordernisse des Krieges« bedingt gewesen sind. In Deutschland geht diese Auffassung auf den deutschen General Hartmann (1817-1878) zurück, der sich 1877 gegen eine Kodifizierung des Kriegsrechts aussprach und dem »Ideal des Rechts« die »Realität des Krieges« gegenüberstellte.84 Allerdings lebte Hartmann zu einer Zeit, als die gängigen Vorstellungen von Moral und Ehre dem Denken des preußischen Offiziersstands entsprachen. So vermerkt der russische Jurist Fjodor F. Martens (1845-1909), Professor für internationales Recht, von dem die 1907 in die Haager Landkriegsordnung eingegangene sogenannte Martens'sche Klausel85 stammt, in seinem Buch »Frieden und Krieg«:

Man könnte meinen, daß General Hartmann die militärische Gewalt gar nicht begrenzen will und nicht darum bemüht ist, die Leidenschaften der wutentbrannten Armeen zu zügeln, doch in Wirklichkeit ist er weit davon entfernt. Er beschränkt sich nicht nur darauf, einige Kriegsgesetze und -brauche anzuerkennen, sondern zeigt auch eifrig auf, daß ihre Befolgung für eine zivilisierte Armee eine Frage der Ehre und des Gewissens ist. Hartmanns Ansicht nach sollen sich Rechtsbewußtsein und hohe Moral auf alle Handlungen der Kämpfenden auswirken.86

Allerdings führte die massenweise Rekrutierung von Soldaten, denen moralische und menschliche Begriffe fremd waren, im Zweiten Weltkrieg zu Befehlen, die die Erfordernisse des Krieges zur Handlungsmaxime für alle Kämpfenden erklärten. So schreibt Manfred Messerschmidt:

Im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion forderte die politische und militärische Führung von Anfang an, noch bevor überhaupt strategische oder taktische »Notwendigkeiten« auftreten konnten, die Bereitschaft zu rechtswidrigem, ja verbrecherischem Handeln. Hitler ließ vor der Generalität nicht den geringsten Zweifel daran. Seine Vorstellungen waren konsequente Weiterentwicklungen der schon in seinen Büchern der

83 VASILIJ I. CUJKOV: Konec tret'ego rejcha. Moskau 1973, S.43; deutsch WASSILIJ TSCHUIKOW: Das Ende des Dritten Reiches. München 1966.

84 J[ULIUS] VON HARTMANN: Militärische Nothwendigkeit und Humanität (= Kritische Versuche, Bd. 2). Berlin 1878.

85 Grundlage des Völkerrechts seien die sich aus den unter gesitteten Völkern feststehenden Gebräuchen und aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens ergebenden Handlungsnormen.

86 FEDOR F. MARTENS: Sobranie traktatov, zakljucennychRossijusinostrannymiderzavami (= Recueil des traites et Conventions conclus par la Russie avec les puissances etrangeres). Zusammengestellt von F. Martens. 15 Bde. St. Peterburg 1874-1909.

zwanziger Jahre niedergelegten politischen Grundsätze. Sie führten die Wehrmacht und damit letztlich Staat und Nation in einen Krieg neuer Qualität.87

Die neue »Qualität« des Krieges kam u.a. in den zahlreichen Aufforderungen zur Erschießung und Ermordung der Zivilbevölkerung zum Ausdruck. So sagte der bereits zitierte Obergefreite des 2. Luftwaffen-Infanterie-Regiments der 4. Luftwaf-fen-Infanterie-Division Le Court bei seiner Vernehmung aus, daß er als Anerkennung seiner »guten Arbeit und des Dienstes in der Deutschen Wehrmacht (gemeint war damit die Erschießung von Kriegsgefangenen und Sowjetbürgern) vorzeitig zum Obergefreiten befördert und mit der »Ostmedaille« ausgezeichnet wurde.88 Er selbst hatte mehr als 30 Häuser und 70 Personen, in der Mehrzahl alte Leute, Frauen und Kinder verbrannt.

Allerdings würden wir das Problem der Verbrechen vereinfachen, reduzierten wir es nur auf »die Erfordernisse des Krieges«, d.h. auf Konflikte, die sich aus der Ausführung rechtswidriger Befehle ergeben, bzw. auf unmittelbar wirkende Faktoren und ein System äußerer Umstände, die quasi automatisch bestimmte Verhaltensweisen hervorbringen.89 Dem verbrecherischen Verhalten der Angehörigen der Wehrmacht wie dem der Roten Armee lagen zudem bestimmte Verhaltensstereotype zugrunde, solche, die erst unter Kriegsbedingungen zutage treten. Gemeint sind Handlungen, deren antisoziale Bedeutung nicht eigentlich reflektiert worden ist. Sie sind in der Regel spontan und werden durch plötzlich sich ergebende Handlungsdispositionen und -konstellationen begünstigt. Sie sind einem Ausnahmezustand vergleichbar, in dem normalerweise erwartbare Handlungsprinzipien außer Kraft gesetzt sind. Ohne hier im einzelnen auf die sozialpsychologischen, individuell bzw. kollektiv verhandenen Verhaltensdispositionen einzugehen, ist es mehr als offensichtlich, daß sich sowohl viele deutsche Soldaten und Offiziere in der UdSSR, als auch sowjetische Soldaten und Offiziere in Deutschland in einer Art Ausnahmesituation fühlten und gegen die auch im Krieg gültigen Prinzipien des Völkerrechts verstoßen haben. Die allgemeine Situation des Krieges war für die Realisierung bestimmter - auch in anderen Kriegen beobachtbarer - Verhaltensmuster daher geradezu prädestiniert. Während die meisten Soldaten dtn Krieg als Kampf um Gerechtigkeit ansahen, mißbrauchten andere geltendes Recht. Den Aussagen von Le Court und Schwager nach zu urteilen, gab es immer wieder Fälle, in denen Wehrmachtsangehörige einen wahren Genuß am Foltern und an den Qualen ihrer Opfer hatten.

Abgesehen vom Verhalten sowohl deutscher wie russischer Soldaten waren die Handlungsnormen von Angehörigen der Roten Armee auch durch eine Reihe weiterer Momente gesteuert. Diese erklären bis zu einem gewissen Grade ihre Haltung Deutschland gegenüber. Sie wollten Unrecht vergelten, ihren Unmut ob der

87 MESSERSCHMIDT: Der Kampf der Wehrmacht (wie Anm. 55), S. 229f.

88 NP, russ. Bd. 5, S. 99; dt. Bd. 7, S. 512.

89 STANG: Schuld und Schuldeingeständnis (wie Anm. 20), S. 131-152.

erzwungenen Kriegssituation Luft machen, ihre Angst durch Herrschaftsausübung kompensieren, wozu neben dem Siegen auch das Beutemachen gehörte. Die Erfahrung, aus armen Verhältnissen als Sieger in ein reiches Land zu kommen, verstärkte diese Haltung.90 Die Verwüstungen und Plünderungen deutscher Wohnhäuser sind durchaus auch als Folge des beim Vergleich des eigenen Lebensniveaus mit dem Wohlstand in Deutschland aufkommenden Neids der Soldaten zu begreifen. Schwarz van Berk zitiert Tagebuchaufzeichnungen und Feldpostbriefe von Angehörigen der Roten Armee an ihre Familien, in denen die »unwahrscheinliche Armut des Lebens der breiten Massen unter dem roten Stern« beschrieben und darauf verwiesen wird, wie deprimierend der Wohlstand des Westens für die russischen Soldaten war. Sie fühlten sich wie »ein neuer Robinson«, den es »aus einem fernen, kahlen Lande plötzlich mitten in eine technisch hochentwickelte, bis ins letzte zivilisierte Welt verschlagen« hatte.91

Antony Beevor vertritt die Auffassung, daß die Kriminalität der Russen auf die fehlende Disziplin in der Armee und die zwangsweise Entmenschlichung durch zwei bis drei Jahre Krieg zurückzuführen sei, die »alle bewaffneten Männer zu potentiellen Gewalttätern werden lassen«. Allerdings trifft dies seiner Meinung nach nicht für alle Armeen im besetzten Deutschland zu:

In Berlin wurde auf dem Schwarzmarkt in »Zigarettenwährung« gezahlt. Als die amerikanischen Soldaten, denen diese Währung fast unbegrenzt zur Verfügung stand, eintrafen, hatten sie es nicht nötig, sich eine Frau mit Gewalt zu nehmen.92

Einen weiteren Grund für die Eskalation der Gewalt in der sowjetischen Armee sieht Beevor darin, daß die Soldaten freien und praktisch uneingeschränkten Zugriff auf Alkohol hatten.

Der größte Fehler der deutschen Militärbehörden war ihre Weigerung, vor dem Eintreffen der Roten Armee alle Alkoholvorräte zu vernichten. Sie taten das in der Vorstellung, ein betrunkener Feind werde nicht gut kämpfen können. Es war geradezu tragisch für den weiblichen Teil der Bevölkerung, daß die Rotarmisten sich damit Mut antranken, um zu vergewaltigen und das Ende dieses schrecklichen Krieges zu feiern.93

Beevor sucht aber auch nach Erklärungen für die von ihm offengelegten Fakten und Zeugnisse bezüglich der »Jagd auf Frauen« und befaßt sich mit den Triebmechanismen für die »Kasernenerotik«. So schreibt er:

90 Vgl. hierzu ausführlich GENNADY BORDIOUGOV: The Populär Mood in tbe Unocatpied Soviet Union: Continuity and Change during tbe War. In: Robert W. Thurston/Bernd Bonwetsch (Hrsg.): The People's War: Responses to World War E in the Soviet Union. Urbana und Chicago 2000, S. 54-83.

91 HANS SCHWARZ VAN BERK : Iwan im Netzhemd. Oder: Die Ankunft der armen Teufel. In: Das Reich vom 4. März 1945; Wiederabdruck in HANS DIETER MÜLLER (Hrsg.): Facsimile Querschnitt durch Das Reich. Bern und München 1964, S. 204 f.

92 BEEVOR: Berlin. The downfall (wie Anm. 46), S. 414; dt. S. 450.

93 EBD., S. 409; dt. S. 444.

Als die Rote Armee Berlin erreichte, betrachteten die Soldaten deutsche Frauen eher als normale Kriegsbeute und nicht mehr als Ziel ihres Hasses. Das Element der Dominanz war zwar immer noch vorhanden, aber möglicherweise als Ergebnis der Erniedrigungen, die sie selbst durch ihre Kommandeure und die Sowjetbehörden insgesamt hatten erdulden müssen [...]. Stalin setzte durch, daß nahezu alles Sexuelle aus der sowjetischen Gesellschaft verbannt wurde. Und dies nicht aus puritanischer Überzeugung, sondern weil Liebe und Sex nicht zu den Dogmen paßten, mit denen man dem Individuum alles Persönliche austreiben wollte. Menschliche Gefühle und Bedürfnisse hatten darin keinen Platz. Freuds Werke wurden verboten, Scheidung und Ehebruch wurden von d» Partei scharf verurteilt. [...] Das Regime suchte zu erreichen, daß sich Liebe ausschließlich auf die Partei, vor allem auf ihren großen Führer, richtete.

Einige Augenzeugen schildern, wie widersprüchlich das Verhalten der Soldaten und Offiziere der Roten Armee bei der Einnahme Berlins war. So berichtet die englische Aristokratin Jessica Redsdale, die sich Anfang Mai 1945 in Berlin aufhielt, in einem Brief an ihre Freundin:

Gestern sah ich, wie zwei junge russische Soldaten einen Jungen vom Volkssturm prügelten. Sie schlugen heftig auf ihn ein, doch nach kurzer Zeit mischte sich ein älterer Russe ein, zerrte sie auseinander und redete auf sie ein [...]. O weh, in Berlin fließt immer noch Blut [...]. Die russischen Infanteristen sind sehr wütend auf die Deutschen, schlagen bei der kleinsten Provokation zu. Ich kenne deine Haltung zur russischen Literatur, zu den Russen und beobachte dies deshalb aufmerksam. Meiner Meinung nach haben alle von den Russen mehr Brutalität erwartet. Aber sie sind vor allem grob und das häufig nur deshalb, weil sie so unendlich müde sind. Ich habe mit einem russischen Übersetzer aus dem Stab der 1. Weißrussischen Front gesprochen und ihm erzählt, wie sich der ältere Soldat für den jungen Deutschen eingesetzt hat. Er erklärte das so: »Ist doch klar, ihm taten die jungen Leute leid.« Und als er meine fragenden Augen sah, fügte er hinzu: »Es ist schwer, immer nur zu hassen. Man will lieben.«95

Der Schweizer Journalist Max Schnetzer fragte einen Kollegen, der die Kämpfe in Berlin-Wannsee beschrieb, wie sich die Russen verhalten hätten.

Teils wie Schweine, teils wie Engel [...]. In einzelnen Wohnungen ist es zu wüsten Szenen mit Frauen und Mädchen gekommen. Eine Frau ist an der Mißhandlung durch zehn Soldaten gestorben. In anderen Häusern haben sich die Russen wie Freunde auf-geführt [...].96

In Tagebüchern und Memoiren, wie z.B. von Ellen Gräfin Poninski, wird das Verhalten der sowjetischen Soldaten mit dem primitiver Kinder verglichen, die extrem freundlich, besonders zu Kindern, aber auch gemein und brutal sein konnten. Peter

94 EBD., S.32;dt. S.45f.

95 Zitiert nach ELENA S-JANOVA: Tri kapituljacii tret'ego rejcha (Drei Kapitulationen des Dritten Reiches). In: Izvestija vom 7. Mai 2003. Dieser Artikel basiert auf bisher unveröffentlichten Dokumenten aus dem Beutearchiv des Generalstabs der RKKA.

96 Zitiert nach NAIMARK: Die Russen in Deutschland (wie Anm. 48), S. 106.

Bloch, der die ersten Wochen der Besatzung in Kleinmachnow bei Berlin erlebte, schreibt über seine Erinnerung an Russen:

Sie waren unberechenbar; brutal wie Hunnen und zutraulich wie Kinder. Man wußte nie, woran man mit ihnen war. Sie konnten ungerührt Menschen totschießen und Frauen vergewaltigen, Kindern Schokolade schenken und vor einem Stall mit jungen Kaninchen lachend und bewundernd hocken.97

hi ständig wiederkehrenden gefährlichen und abstrusen Situationen, in denen niemand einzuschätzen vermochte, wie sich der deutsche >Besatzer< oder der sowjetische >Befreier< verhalten würde, mußte die Zivilbevölkerung notgedrungen nach Möglichkeiten des Selbstschutzes und der eigenen Rettung suchen. Sowohl das sowjetische als auch das deutsche Oberkommando warnte die Bevölkerung vor dem regelwidrigen Verlauf des Krieges, sie versuchten, deren Evakuierung zu organisieren und die Flüchtlingsströme zu schützen. Allerdings hatten in bestimmten Kriegsphasen Beschlüsse von oben, mit denen die Besatzung verhindert werden sollte, schwerwiegende Folgen. Erwähnt sei nur der Befehl des Hauptquartiers des Oberkommandos vom 17. November 1941, in dem die sowjetischen Truppen kategorisch aufgefordert wurden,

alle Ortschaften im Hinterland der deutschen Truppen in einer Tiefe von 40 bis 60 km von der Hauptkampflinie und 20 bis 30 km rechts und links von den Wegen zu zerstören und niederzubrennen.98

Zur Ausführung dieses Befehls, der die Bezeichnung »Taktik der verbrannten Erde« erhielt, wurden nicht nur die NKWD-Truppen, sondern auch die Luftstreitkräfte, die schwere Artillerie, die Flammenwerfereinheiten und die Diversionsgruppen der Roten Armee eingesetzt. Beim Abzug der Verbände und Truppenteile der Roten Armee zerstörte man Industrieobjekte, Kraftwerke, Rohstoffe und Fertigerzeugnisse. Nicht weniger folgenschwer war am 30. April 1945 Hitlers Befehl, die Schleusen des Landwehrkanals zu öffnen und die Berliner U-Bahn zu fluten. Hierbei kamen viele deutsche Soldaten, Frauen und Kinder, die sich in den U-Bahn-Stationen versteckt gehalten hatten, ums Leben.

Zahlreiche Menschen, die sich nicht auf den Schutz ihrer Regierung bzw. später der Besatzungsmächte verlassen wollten, paßten sich gezwungenermaßen an, um zu überleben. Hauptsächlich, um ihre Familie durchzubringen, stellten sie sich in den Dienst der Organe des neuen Machtregimes, wurden Kollaborateure und arbeiteten in feindlichen Unternehmen. Im März 1943 reiste die »Prawda«-Korrespondentin Je. Kononenko nach Woronesh und berichtete anschließend über ihre Gespräche mit Frauen aus den besetzten Gebieten:

97 Zitiert nach EBD., S. 107.

98 CA MO RF, f. 353, op. 5864, d. 1, Bl. 27. Vgl. zu diesem Befehl auch den Dokumentenband Skrytaja pravda vojny. 1941 god. Neizvestnye dokumenty (Die verschwiegene Wahrheit des Kriegs. Das Jahr 1941. Unbekannte Dokumente). Moskau 1992, S.211.

Sie erzählten von Mädchen, die mit Deutschen »ausgingen«. Die Deutschen schenkten denen, die mit ihnen schliefen, Sachen, Kleider [...]. Maruska bekam von ihrem Kavalier eine Schachtel Pralinen und einen Sack Weißmehl aus Woronesh. Sie erzählten, daß manche auch von den Fritzen schwanger geworden sind, und zwei im nächsten Monat ein Kind bekommen [...]. Eine hat sogar einen Deutschen geheiratet, und als sie weggingen, hat er sie unterwegs verlassen, und sie ist barfuß ins Dorf zurückgekommen. Selbst schuld, die Dumme. Und jetzt weint sie, hatte sie ihn doch aus Liebe geheiratet [...].

Gegen den Vorwurf, wie sie mit Deutschen tanzen und mit ihnen sprechen könnten, wo nebenan unsere Rotarmisten sterben, setzten sie sich erregt zur Wehr:

Aber was sollten wir machen? Wie helfen? [...] Ihr seid weit weg, aber wir müssen mit ihnen leben. Bist du ihnen nicht gefällig, geht es dir schlecht. Ja, wir haben uns nicht einmal besonders um sie bemüht. Manche haben sich um sie bemüht, aber wir haben uns einfach mit unserem Schicksal abgefunden.99

Sowohl russische als auch deutsche Frauen lernten, sich während der >Jagdstun-den< der Soldaten und Offiziere zu verbergen. In Berlin versteckten sie ihre jungen Töchter tagelang auf Dachböden. Zuweilen ging die größte Gefahr von Nachbarn aus, die diese Verstecke verrieten, um auf diese Weise ihre eigenen Töchter zu retten. Viele Frauen gaben sich auch >freiwillig< einem Soldaten hin, in der Hoffnung, daß er sie vor den anderen beschützen würde. Susan Brownmiller vermerkt, daß anschließend die Zeit des Hungers begann, »der Übergang von Kriegsvergewaltigungen zur Kriegsprostitution war fließend«100. Ursula von Kardorff berichtet, daß Berlin nach der Kapitulation sogleich voller Frauen war, die ihren Körper für Lebensmittel oder die alternative Währung, Zigaretten, feilboten.101 Heike Sander, eine deutsche Filmregisseurin, die sich ausführlich mit diesem Thema befaßte, schreibt über die »Mischung von direkter Gewalt, Erpressung, Berechnung und aufrichtiger Anhänglichkeit«102.

Russische und deutsche Frauen entstellten sich und ihren Töchtern häufig die Gesichter, verkrüppelten sich, um Demütigungen zu entgehen, und begingen Selbstmord. Iwan A. Serow, Vertreter des Volkskommissars für Innere Angelegenheiten und NKWD-Beauftragter der UdSSR an der 1. Weißrussisch<*n Front, vermerkt in einem Geheimbericht an Lawrentij P. Berija vom 5. März 1945, daß die

99 Auszug aus einer Bescheinigung der Organisations- und Instruktionsabteilung des ZK der VKP(b) »Über das Verhalten der Kommunisten und Komsomolzen, die im Hinterland beim Feind blieben«, Mai 1943. In: E. Ju. ZUBKOVA: A tak, konecno, oni - gady. In: Rodina Sonderausgabe »Rossija I Germanija. XX vek« 2002, Nr. 10, S. 59.

100 Zitiert nach SUSAN BROWNMILLER: They raped every German female from eight to eighty. In: The Daily Telegraph vom 12. Juni 2001.

101 EBD. Vgl. dazu auch URSULA VON KARDORFF: Berliner Aufzeichnungen 1942 bis 1943. Unter Verwendung der Original-Tagebücher neu hrsg. und kommentiert von Peter Haiti. 2. Aufl. München 1997.

102 The Daily Telegraph (wie Anm. 100). Vgl. dazu auch HELKE SANDER: Befreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigungen, Kinder. München 1992.

Selbstmorde von Erwachsenen und besonders von Frauen mit vorheriger Tötung ihrer Kinder Massencharakter annahmen.103

EINGESTÄNDNIS UND BEWUßTSEIN DES VERBRECHENS

Gleich nach Kriegsende wurde der aus der Sicht der Sieger natürliche Wunsch, den besiegten Feind nicht länger nur als »faschistischen Menschenfresser«, »Unmensch«, »Ekel« oder »dumpfen Hunnen«, sondern als Menschen wahrzunehmen, in der UdSSR strengstens unterbunden. Auch Gespräche oder Diskussionen über die negativen Seiten der Befreiung Ostdeutschlands waren untersagt. Heute besteht nicht nur die Möglichkeit, über die Verbrechen zu sprechen, sondern nach und nach auch Dokumente einzusehen, in denen die während des Krieges bis zur Kapitulation Deutschlands und in der Nachkriegszeit verübten Verbrechen direkt oder indirekt als solche erkannt und zugegeben werden. Sich über ein Verbrechen bewußt zu werden, ist keineswegs mit einem Schuldeingeständnis gleichzusetzen. Vielmehr werden Erklärungen, Verschleierungen und Rechtfertigungen vorgebracht. Manche hatten zwar die Möglichkeit, Einsicht in die Umstände zu nehmen und sie vorauszusehen, sie taten es aber nicht. Als Beweggrund für kriminelles Verhalten spielen Emotionen wie Haß, Angst und Grausamkeit eine Rolle, sie bilden den Hintergrund, vor dem die intellektuellen und willkürlichen Prozesse abliefen.

Schuldeingeständnisse und Verurteilungen von Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung lassen sich auf zwei Ebenen betrachten, einer offiziellen und einer individuellen, wobei beide sich stark voneinander unterscheiden können.

Die Ansichten über das deutsch-russische bzw. russisch-sowjetische Verhältnis waren in der Wehrmacht nicht so einheitlich, wie es die nationalsozialistische Propaganda vorgab. Dies wurde bereits in den ersten Kriegsmonaten bei einigen Offizieren sichtbar, denen es nicht nur um das politische Ziel der Vernichtung des Bolschewismus, sondern auch um eine gerechtere Behandlung der russischen Bevölkerung ging. Ausgehend von einem traditionell positiven Rußlandbild war ihnen die Feststellung, daß sich russisch-slawischer und deutscher Charakter nie vertragen würden, einfach zu primitiv. So erklärt Major G. Meier-Welcker im Januar 1942:

Die russischen Bauern sind keineswegs alle »hinterhältig und dumpf«. Ich muß sogar sagen, daß ich diese Eigenschaften nur selten antreffe. Was wir »dumpf« nennen, ist vielfach eine Art zu leben, die uns schwer zugänglich und verständlich ist. Wie viele rührend anständige Menschen, geradezu treue Seelen habe ich in diesem Land getroffen. Und welche Fähigkeit, sein Schicksal zu tragen, besitzt dieses Volk.104

103 Vgl. ZIROVA: »Cast' naselenija koncaetzizn'samoubijstvom« (wie Anm. 44), S. 45ff.

104 Zitiert nach JÜRGEN FÖRSTER: Zum Rußlandbild des Militär 1941-194}. In: Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Das Rußlandbüd im Dritten Reich. Köln, Weimar und Wien 1994, S. 154.

In der Anfangsphase des Krieges wurde unter den Privatsachen eines gefallenen deutschen Offiziers ein Sonderbefehl gefunden, den ein Hauptmann aus dem Generalstab am 17. Juli 1941 erteilt hatte:

Bataillon des Regiments 394, Abteilung 1 a. In einer Unterabteilung kam es zu Vorfällen, bei denen Hühner geschlachtet und weggeworfen wurden. Solche Vorfälle werde ich in meinem Bataillon nicht dulden und bitte [... ] mit mindestens 5 Tagen strengstem Arrest zu bestrafen. Gleichzeitig bitte ich sorgsam darauf zu achten, daß die Gärten der bewohnten Dörfer nur mit Genehmigung eines Offiziers betreten werden. Diese Verordnun^ist den Truppenteilen innerhalb von 14 Tagen bekanntzugeben.105

In einem Merkblatt zum Beuteeigentum und zu Lebensmittelbeschlagnahmun-gen vom 10. August 1941 wird darauf verwiesen, daß Truppenteile und einzelne Soldaten Dorfbewohnern, ohne zu bezahlen, lebendes und totes Inventar, das sie selbst benötigten, weggenommen haben. In dem Papier wird gefordert, solche Fälle >wilder Übergriffe< in Zukunft zu unterlassen.106

In die gleiche Richtung zielt ein Befehl des Oberbefehlshabers der 16. Armee, Busch, vom 29. Juli 1941 an die Kommandeure der Korps und Divisionen. Anläßlich der Vorfälle >räuberischen< Verhaltens von Soldaten gegenüber der Zivilbevölkerung ordnet er an:

Ein Verstoß ist ungeachtet der Person zu bestrafen: Plünderungen, wilde Wegnahmen werden vom Kriegsgericht bestraft.107

In der Anlage zum Befehl geht er auf Handlungen ein, die das Eigentum der Bürger in den besetzten Gebieten betreffen:

Verstoß 3. Räuberische Übergriffe [...] sind ein Herd von Undiszipliniertheit. Sie untergraben nicht nur das Ansehen des Truppenteils, sondern durch falsche Requisitionsbelege gerät auch der Wiederaufbau der Landwirtschaft, an der wir großes Interesse haben, ins Stocken, die Ernte und unsere Lebensmittelversorgung werden gefährdet und das Vertrauen der Bauern erschüttert.

Als Ausweg wird empfohlen: Die jeweilige Einheit kann selbständig gegen Barzahlung (bis zu 1000 Mark) Vieh erwerben und schlachten, wenn ihr Bedarf durch die Sch'achtkom-panie nicht gesichert sein sollte. Hierbei darf nicht mit Reichsmark abgerechnet werden, sondern nur mit Rubeln oder Kreditscheinen, ab 1000 Mark sind Quittungen über den Empfang in Deutsch und Russisch auszustellen.

Vorbeugungsmaßnahmen: Dauerhafte Beobachtung durch das Kommando. Das »Anlegen von Viehvorräten« ist untersagt. Nicht zu dulden sind auch Plünderungen und die sinnlose Suche nach »Schätzen«. Plünderungen über den unmittelbaren Bedarf hinaus sind unverzüglich dem Armeestab zu melden.108

105 RGASPI, f. 17, op. 125, d. 52, Bl. 19. Rückübersetzung aus dem Russischen.

106 EBD., Bl. 128. Rückübers. aus dem Russischen.

107 EBD., Bl. 129-131. Rückübers. aus dem Russischen.

108 Neizvestnaja Rossija (wie Anm. 26), S. 265. Rückübers. aus dem Russischen.

Wenn die Hauptverwaltung Aufklärung der Roten Armee Befehle dieser Art aufspürte, ging sie davon aus, daß das deutsche Oberkommando eigenmächtiges Marodieren von Einzelpersonen zwar untersagte, die Soldaten für Verstöße gegen diese Verbote jedoch in der Regel nicht bestrafte. Daher hatten diese Befehle aus sowjetischer Sicht nicht die geringste praktische Bedeutung und sollten lediglich unter Beweis stellen, daß sich die deutsche Armee an die internationalen Regeln der Kriegsführung hielt.109

Es ist nicht zu übersehen, daß einzelne Wehrmachtsoffiziere ab 1942 gegen die grausame Behandlung der Zivilbevölkerung protestierten. Als Beispiel hierfür seien der Bericht des ehemaligen Befehlshabers des 528. Infanterie-Regiments Major Rösler und das Schreiben des Chefs des 9. Wehrbezirks Schirwindt angeführt. Ende Juli 1941 befand sich das von Rösler geführte 528. Infanterieregiment auf dem Weg von Westen nach Shitomir, wo es Quartier beziehen sollte. Nicht weit von diesem Platz waren Gewehrsalven zu hören, denen einige Zeit später Pistolenschüsse folgten. Rösler und sein Adjutant und Ordonnanzoffizier, Oberleutnant von Bassewitz und Leutnant Müller-Brodmann, beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen: Wir bekamen bald den Eindruck, daß sich hier ein grausames Schauspiel abspielen müsse, denn nach einiger Zeit sahen wir zahlreiche Soldaten und Zivilpersonen einem vor uns liegenden Bahndamm zuströmen, hinter dem, wie man uns meldete, laufend Erschießungen vorgenommen werden. [...] Als wir schließlich den Bahndamm erklettert hatten, bot sich uns jenseits dieses Dammes ein Bild, dessen grausame Abscheulichkeit auf den unvorbereitet Herantretenden erschütternd und abschreckend wirkte. In die Erde war ein etwa 7-8 Meter langer, vielleicht 4 Meter breiter Graben eingezogen, dessen aufgeworfene Erde auf der einen Seite aufgeschichtet war. Diese Aufschichtung und die darunterliegende Grabenwand war vollständig mit Strömen von Blut besudelt. Die Grube selbst war mit zahlreichen menschlichen Leichen aller Art und jeden Geschlechts gefüllt, so daß ihre Tiefe nicht geschätzt werden konnte. Hinter dem aufgeschütteten Wall stand ein Polizeikommando, das von einem Polizeioffizier befehligt wurde. Die Uniformen dieses Kommandos wiesen Blutspuren auf. In weitem Umkreis ringsherum standen unzählige Soldaten dort bereits liegender Truppenteile, teilweise in Badehosen, als Zuschauer, ebenso zahlreiche Zivilisten mit Frauen und Kindern. Ich habe mir daraufhin durch ganz dichtes Herantreten an den Graben ein Bild verschafft, das ich bis heute nicht vergessen konnte. Unter anderem lag in diesem Grab ein alter Mann mit einem weißen Vollbart, der über seinem linken Arm noch ein kleines Spazierstöckchen hängen hatte. Da dieser Mann noch durch seine stoßweise Atemtätigkeit Lebenszeichen von sich gab, ersuchte ich einen der Polizisten, ihn endgültig zu töten, worauf dieser mit lachender Mine sagte: »Den habe ich schon 7mal was in den Bauch gejagt, der krepiert schon von alleine.« Die in dem Grabe liegenden Erschossenen wurden nicht besonders zurechtgelegt, sondern blieben so, wie sie nach dem Schuß von der Grabenwand heruntergefallen waren. Alle diese Leute wurden durch Nackenschüsse erledigt und anschließend von oben her mit Pistolenschüssen abgefangen.

109 RGASPI, f. 17, op. 125, d. 253, Bl. 113.

 

Seinen Bericht schließt Rösler mit folgenden Worten:

Ich habe durch meine Teilnahme am Weltkriege sowie dem französischen und russischen Feldzug keineswegs eine übertriebene Verweichlichung meines Gemütes erfahren, habe auch durch meine Betätigung in den Freiwilligenformationen des Jahres 19 manches mehr als Unerfreuliche erlebt, ich kann mich jedoch nicht entsinnen, jemals einer solchen Szene, wie der geschilderten, beigewohnt zu haben [...]

Ich erwähne noch, daß nach Aussagen von Soldaten, die sich diese Hinrichtungen öfters ansahen, täglich mehrere Hunderte erschossen worden sein sollen.110

Der stellvertretende Befehlshaber des IX. Armeekorps und Chef des 9. Militärbezirks Schirwindt leitete Röslers Bericht an den Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamts in Berlin weiter und kommentierte ihn folgendermaßen:

Auf Grund umlaufender Berichte über Massenexekutionen in Rußland bin ich dem Ursprünge nachgegangen, da ich sie für weit übertrieben hielt. Anliegend überreiche ich einen Bericht des Majors Rösler, der die Gerüchte in vollem Maße bestätigt. Wenn solche Handlungen in dieser Öffentlichkeit stattfinden, wird es nicht zu vermeiden sein, daß sie in der Heimat bekannt und kritisiert werden.111

Die weitere Entwicklung dieser Geschichte ist nicht bekannt.

1943 wurden die Vorschriften über die Behandlung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten erweitert. Die nationalsozialistische Propaganda mäßigte ihren verächtlichen Ton gegenüber den >Untermenschen<. Im April 1943 erhielten die Offiziere der 2. Panzerarmee Anordnungen, über die sie alle Militärangehörigen bis zur Kompanie in Kenntnis setzen sollten. Nachdem sich die Erkenntnis durchgesetzt hatte, daß die >Haltung zum russischen Volk< von entscheidender Bedeutung für den Kampf an der Front ist, da von der Ruhe im Hinterland die Versorgung und Sicherheit der kämpfenden Einheiten im rückwärtigen Gebiet abhängen, stellte der Stab dieser Armee fest, daß

unnötige Grausamkeit und jegliche Willkür falsch, schädlich und unwürdig sind ... Wir müssen unsere Überlegenheit durch unser untadeliges Verhalten gegenüber der Bevölkerung unter Beweis stellen ... Unkorrektes Verhalten, unnötige Beleidigungen, Grobheiten, Drohungen, grobe Worte und Gewalt führen zu heimlichem Widerstand sowie zur Hinwendung der Bevölkerung zur Bandenarmee.112

hi den Anordnungen wurde zielstrebiges Verhalten gefordert, damit die Bevölkerung die Deutschen nicht länger als Okkupanten, sondern als Befreier ansah. Ebenso erkannte man, daß es »sinnlos ist, Dörfer anzuzünden, weil sie eine sichere Quelle für die Lebensmittelversorgung unserer Armee darstellen«, und daß »Erschießungen von Geiseln oder völlig unbeteiligten Personen zu unterlassen sind«113.

110 NP, dt. Bd. 7, S.587f.

111 NP, dt.Bd.7, S.588f.

112 RGASPI, f. 17, op. 125, d. 253, Bl. 113. Rückübers. aus dem Russischen.

113 EBD.J. 17, op. 125, d. 251, Bl. 60-61. Rückübers. aus dem Russischen.

In den Berichtsunterlagen des Stabs derselben Armee (Mai 1944) gibt es auch ein Merkblatt über die Behandlung der russischen Bevölkerung. »Die früher ergriffenen Maßnahmen führten dazu, daß uns wohlgesonnene Leute zu den Banden überliefen.«114

Folgende scharfsinnige Ermahnungen im Merkblatt enthüllten den meisten Armisten völlig neue Erkenntnisse:

»Obszöne Worte und Gesten sind nicht nur für das Mädchen erniedrigend, das ihr kennenzulernen versucht, sondern werden auch von ihrer Familie als Beleidigung aufgefaßt« ... »Hänge nicht überall in deiner Wohnung Abbildungen von nackten Frauen auf« ... »Wenn du es mit Russen zu tun hast, greife nicht immer sofort zum Stock. Wenn du Widerstand spürst, mußt du streng und nicht nachsichtig sein, aber du sollst nicht schlagen« ... »Denke daran, wie du und deine Verwandten euch fühlen würdet, wenn deiner Familie und dir erbarmungslos das Letzte weggenommen würde« ... »Wenn ein Russe zu dir kommt, um dich um etwas zu bitten, schreie nicht sofort »Hau ab!« Vielleicht denkst du dir nichts dabei. Der Russe aber wird sagen, daß du ihn wie einen Hund behandelt... Mit einem solchen Verhalten kannst du ihn zum Feind unserer Sache machen.«115

Ein weiterer Befehl zielte darauf ab, den Armeeangehörigen Vertrauen und Respekt vor der rassischen Bevölkerung zu vermitteln, damit sie Russen nicht länger als >Menschen zweiter Klasses« ansehen, die keine Ehre und Respekt verdienen.116 In dem Befehl wurde hervorgehoben, wer gegen diese Prinzipien verstoße, mißachte »die Interessen Deutschlands sträflich«117.

Der Kriegsausgang zeigte: Alle diese Befehle und Anordnungen >von oben<, auch das realistischere Bild von Russen, kamen viel zu spät. Die Zersetzung der Wehrmacht war inzwischen so weit fortgeschritten, daß selbst Himmler dies zugeben mußte. In dem Fernschreiben, das er am 13. Februar 1945 an die 542. Volksgrenadierdivision richtete, versuchte er den Verbrechen der Wehrmachtsangehörigen an der eigenen Bevölkerung Einhalt zu gebieten.

Aus allen Altersstufen der Bevölkerung treffen Klagen darüber ein, daß deutsche Soldaten Häuser ausrauben, die von ihren Besitzern verlassen wurden, und den Besitz und die Habseligkeiten der armen Leute sterilen und zerstören. Alle Kommandeure aller Rangstufen sind dafür verantwortlich, daß solche schändlichen Vorfälle weitestgehend verhindert und Disziplin und Ordnung vollständig aufrechterhalten werden. Jeder, der plündert, ist unverzüglich zu erschießen. Das Schicksal der Menschen, die ihre Heimat verlassen mußten, ist grausam und traurig. Uns alle bedrückt die Tatsache, daß Tausende von Dörfern in die Hände von Russen gefallen sind, die sie ausrauben und zerstören. Es versteht sich von selbst, daß es das Gesetz des Anstandes gebietet, daß in den Dörfern,

114 EBD., D. 253, Bl. 113. Rückübers. aus dem Russischen.

115 EBD., Bl. 60-61. Rückübers. aus dem Russischen.

116 EBD., Bl. 54. Rückübers. aus dem Russischen.

117 EBD., D. 251, Bl. 55. Rückübers. aus dem Russischen. Diese Vorschrift war folgendermaßen kommentiert: »Nicht ablesen! Durchgehen und sprechen, ohne zu lesen! Den Vortrag nur als Vorlage benutzen! So viele Beispiele wie möglich anführen.«

in denen sich deutsche Soldaten aufhalten, in den verlassenen Häusern nicht der kleinste Gegenstand gestohlen oder zerstört wird. Dies ist unsere Pflicht vor uns selbst und vor den deutschen Familien [.. .].118

Für einfache Soldaten und Offiziere war es äußerst schwierig, ihre Haltung zum Geschehen zu äußern oder sogar ein Verbrechen zu verweigern. Wer beispielsweise einen Tötungsbefehl nicht ausführte, wurde geächtet. Nach Angaben des Soldaten der 12. Kompanie des 162. Regiments der 61. Infanteriedivision Leopold Piza drohte demjenigen, der sowjetische Noten oder Flugblätter über die Greueltaten der Wehrmacht las, ein Strafverfahren.n9 Dennoch wird in den überlieferte* Briefen in unterschiedlicher Form Stellung zu dem verbrecherischen Krieg bezogen. Auch gefangengenommene Soldaten und Offiziere äußerten sich hierzu in politischen Verhören, besonders solange der Ausgang des Krieges noch ungewiß war.

Im November 1941 schreibt ein deutscher Soldat seiner Frau von der sowjetischen Front:

Sehr selten habe ich geweint. [...] Erst wenn ich wieder bei Euch bin, im Ausruhen und Überwinden, werden wir sehr viel weinen müssen, und Du verstehst dann auch darin Deinen Mann.120

Die Kriegsgefangene Prischiwara erklärte:

Besser ein kleines Deutschland, in dem man arbeiten kann, als der endlose Krieg für ein »Großes Deutschland«. Wenn Hitler nicht wäre, gäbe es keinen Krieg, und ich wäre nicht Soldat.121

Nach Aussage von Genrich Mokowskij gab ein Unteroffizier namens Schwirz Hitler an allem die Schuld; die letzten Worte, die er vor seinem Tod sprach, lauteten: »Weshalb vergossen wir Blut für eine dunkle Sache?«122

Einige Wissenschaftler gehen davon aus, daß sich innerhalb der Wehrmacht eine Untergrundorganisation formierte. Unter dem Futter des Mantels eines deutschen Soldaten fanden Kämpfer der Roten Armee ein Flugblatt mit dem Titel »Frontbrief Nr. 3« mit folgendem Aufruf:

118 Telegramm an die 2. Weißrussische Front, 21. Februar 1945, Nr. 1131. Rückübertragung der russischen Übersetzung des Befehls des Oberbefehlshabers der Armeegruppe »Weichsel« Himmler. RGASPI, f. 17, op. 125, d. 322, Bl. 28.

119 Vgl. den Überblick über politische Befragungen von Kriegsgefangenen im Februar 1942, zusammengestellt vom Leiter der 7. Abteilung der Politverwaltung der Volchover Front, Bataillonskommissar Roscin. RGASPI, f. 17, op. 125, d. 97, Bl. 97.

120 REINHARD RÜRUP (Hrsg.): Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941-1945. Berlin 1991, S. 167.

121 RGASPI, f. 17, op. 125, d. 97, Bl. 8. Rückübers. aus dem Russischen.

122 EBD., Bl. 39. Rückübers. aus dem Russischen. Vgl. ebenso: d. 52, Bl. 59, 80-81; d. 82, Bl. 50; d. 97, Bl. 195-199; f. 17, op. 25, d. 14063.

Kameraden, wer steckt hier an der Ostfront nicht bis zum Hals in der Scheiße? [...] Hitler hat einen verbrecherischen Krieg entfesselt und führt Deutschland in den Untergang.123

Die Wehrmachtsführung befürchtete, daß die Soldaten im Heimaturlaub die deutsche Bevölkerung mit Schreckensgeschichten über die Ostfront demoralisieren könnten. So werden sie in einem Merkblatt gewarnt:

Ihr steht unter Militärgesetz, und ihr seid immer noch bestraf bar. Sprecht nicht über Waffen, Taktik oder Verluste. Sprecht nicht über schlechte Versorgung und Ungerechtigkeit. Der Geheimdienst des Feindes ist bereit, dies auszunutzen.124

Ein Soldat, wahrscheinlicher eine Gruppe schuf eine eigene Version von Anordnungen unter dem Titel »Nachrichten für Urlauber«. Hierin heißt es:

Ihr müßt daran denken, daß ihr ein nationalsozialistisches Land betretet, dessen Lebensunistände sich sehr stark von denen unterscheiden, an die ihr euch gewöhnt habt. Ihr müßt taktvoll mit den Einheimischen umgehen, euch ihren Sitten anpassen und von den Gewohnheiten ablassen, in die ihr euch so sehr verliebt habt.

Verpflegung: Reißt weder das Parkett noch sonstige Arten von Böden auf, denn Kartoffeln werden anderswo aufbewahrt.

Sperrstunde: Solltet ihr euren Schlüssel vergessen haben, so versucht die Tür mit einem rundgeformten Gegenstand zu öffnen. Nur in extremen Notfällen benutzt eine Handgranate.

Schutz vor Partisanen: Es ist nicht notwendig, Zivilisten nach dem Kennwort zu fragen und auf eine unbefriedigende Antwort hin das Feuer zu eröffnen.

Schutz vor Tieren: Hunde, an denen Sprengminen befestigt sind, haben in der Sowjetunion eine besondere Bedeutung. Deutsche Hunde dagegen beißen im schlimmsten Fall, aber sie explodieren nicht. Das Erschießen eines jeden Hundes, den ihr seht, mag zwar in der Sowjetunion zu empfehlen sein, ruft aber hier einen schlechten Eindruck hervor.

Haltung zur Zivilbevölkerung: Wenn in Deutschland jemand Frauenkleidung trägt, dann heißt dies nicht notwendigerweise, daß es sich hier um einen Partisanen handelt. Dennoch sind solche Wesen für jeden gefährlich, der sich auf Fronturlaub befindet.

Allgemeines: Wenn ihr auf Urlaub in der Heimat seid, dann wagt es nur nicht, über das paradiesische Dasein in der Sowjetunion zu sprechen, denn sonst würde jedermann hierherkommen wollen und unser gemütliches Idyll zerstören.125

Offensichtlich kursierte diese »Anordnung« in der Armee. Im gleichen ironischen Stil verfaßt ist der von mir entdeckte Brief, den ein Leutnant namens Friedrich aus dem 697. Infanterieregiment der 312. Infanteriedivision Ende März 1942 an seine Eltern schrieb. Nicht für das Gericht, nicht beim Verhör, sondern in einem

123 ANTONY BEEVOR: Stalingrad. London 1998; zitiert nach der deutschen Ausgabe Stalingrad. München 1999, S. 69.

124 EBD., S. 67f.

125 EBD., S. 68.

>grotesken< Brief an seine Familie verfaßte der offensichtlich intelligente junge Mann ein schonungsloses Pamphlet gegen sich und seine Regimentskameraden. Dieses Dokument verdient vollständig wiedergegeben zu werden.

Meine Lieben.

Ich kann Euch die freudige Nachricht mitteilen, daß ich hoffe, bald Urlaub zu bekommen. Die Nachricht wird euch freuen, denn ihr ahnt nicht, was auf Euch zukommt, und ist zugleich erfreulich für mich. Damit der Urlaub harmonisch verläuft, bitte ich Euch schon jetzt, Folgendes zu beachten:

1. Es empfiehlt sich, vor Ankunft meines Zuges alle Wertsachen im Garten zu vergraben.

2. Alle Kinder unter 5 Jahren - auch aus den Nachbarhäusern - sollten nach Möglichkeit in die nächsten Kindergärten des nationalsozialistischen Vereins gebracht werden.

3. Damit ich nicht gleich das Haus anzünde, hißt eine weiße Fahne auf einem Besenstiel.

4. Wenn ich Euch am Bahnhof abtaste, glaubt nicht, daß ich euch liebkose, ich suche nach Waffen.

5. Onkel Peter sollte lieber nicht zum Bahnhof kommen, da er sich im Alter zwischen 14 und 70 Jahren befindet. Am besten meldet er sich mit einer Decke, einer Essensschüssel und einem Lebensmittelvorrat für 3 Tage beim nächsten Konzentrationslager.

6. Onkel Wilhelm, der schon 70 Jahre alt ist, hat sich bis zu meiner Abreise als Geisel zur Verfügung zu stellen.

7. Das elektrische Licht ist während meines Urlaubs auszuschalten, dafür sind schon jetzt Kerzen bei den Nachbarn zu entleihen.

8. Hebt alte Zeitungen auf, da ich sie gut gebrauchen kann. Glänzende Illustrierte lassen sich als Tischdecke oder zum Einwickeln von Speck benutzen.

9. Lagert alle Möbel bis auf den letzten Tisch und Stuhl auseinandergenommen im Flur, da sie als Brennholz verwendet werden. Bitte laßt nur das Bücherbord stehen, damit es etwas gibt, was ich kaputtmachen kann und ich nicht um diesen Spaß gebracht werde.

10. Über diesen Punkt bitte ich strengste Verschwiegenheit zu bewahren: Es geht um meine Verpflegung auf Kosten der Bevölkerung: Stellt schon jetzt fest, wo es in der Nähe Hühner, Gänse und Schweine gibt; um den Preis braucht Ihr Euch keine Sorgen zu machen. Ich werde alles mit Hilfe meiner Pistole bezahlen.

11. Versetzt den Wein mit Brennspiritus, dann schmeckt er besser. Verbarrikadiert den Weinkeller ordentlich. Das Aufbrechen ist zu meiner Lieblingsbeschäftigung geworden. Das Wiederholen macht es nur angenehmer.

12. Bitte wendet euch an den Soldatenverein und gebt an, daß eines seiner Mitglieder vom Dach des Nachbarhauses auf eure Fenster geschossen hat. Um die Scheiben braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Ich werde sie sowieso herausschlagen.

13. Die Waschfrau könnt ihr entlassen, da ich erst vor vier Wochen saubere Wäsche angezogen habe.

14. Die Wasserleitung kann bleiben, aber ich persönlich werde mich aus dem Abflußrohr waschen. Hütet euch davor, mein Zahnputzglas zu zerschlagen, ich brauche es zum Wodkatrinken.

15. Wir drei, Mama, Tante Frieda und ich, bilden ein Feldgericht und verurteilen unseren Hauswirt und außerdem alle Nachbarn, die uns ärgern, zum Tod durch Erschießen.

Am besten heben sie sich bis dahin schon ein Grab aus, damit ich meinen Urlaub nicht für solche unwesentlichen Dinge verschwende.

16. Wundert euch nicht, wenn ich unentschlossen vor dem Haus stehen bleibe. Grund dafür ist lediglich meine Angst vor der Dunkelheit.

17. Jetzt kommt ein heikler Punkt, über den ich ungern rede: Zwei Tage vor Ablauf meines Urlaubs solltet Ihr lieber zu den Großeltern fahren, weil ich aus Gewohnheit vor der Abreise das Haus in Brand stecken werde.

18. Wollt ihr mir eine große Freude machen, hängt über die Haustür ein Schild mit der Aufschrift »Grüß Gott! Komm herein, schließ die Tür!« Abgesehen von diesen Wünschen braucht ihr euch um nichts zu kümmern, ich bin genügsam. Ich hoffe, daß es Euch bis zu meiner Ankunft gut geht, Gruß von Eurem Friedrich.126

Bei diesen »Androhungen« blieb es. Friedrichs Eltern erhielten den Brief nicht, da der Leutnant am 1. April im Kampf getötet wurde; das Dokument fiel dabei dem Nachrichtendienst der Roten Armee in die Hände. Die deutsche Führung ordnete es der Kategorie >Kritizismus und Besserwisserei zu. Daß auch andere Soldaten diese Stimmungen teilten, zeigt eine Sitzung des OKW vom 2. Februar 1944, in dessen Beschlüssen es u.a. heißt:

3. Kampf gegen schädliche Einflüsse: a) Propaganda des Gegners; b) defätistische Stimmungen [...]; c) niedergeschlagene Stimmung [...]. 4. Ausmerzung des zersetzenden Kritizismus, der Besserwisserei und des Pessimismus [...]. Damit ist nicht zufälliges, spontanes Schimpfen (!) gemeint, welches die Disziplin nicht untergräbt und bekannte Persönlichkeiten nicht blamiert [.. .].127

Auch in der Roten Armee gab es viele Menschen, die die Verbrechen gegen »die Deutschen« als Schande empfanden. Zumindest liegt kein Grund vor, den zahlreichen Beschlüssen der Armeeführung, mit denen diese den Verbrechen Einhalt zu gebieten versuchte, nicht Glauben zu schenken. Lew Kopelew stellt dar, auf welche Resonanz der Ukas des Befehlshabers der 2. Weißrussischen Front, Marschall Rokossowskij in der Armee stieß: standrechtliches Erschießen für Plündern, Vergewaltigung, Raub, Mord von Zivilpersonen.128

Wie Kopelew berichtet, verfuhr genau so der Divisionskommandeur Oberst Smirnow, als dieser in Allenstein eigenhändig einen Leutnant erschoß, der seine

126 RGASPI, f. 17, op. 125, d. 97, Bl. 103-105. Der Brief wurde bei einem am 1. April 1942 im Bezirk Bolschije Trisely getöteten Leutnant gefunden, ins Russische übersetzt und vom Leiter der 1. Abteilung der 2. Hauptverwaltung für Aufklärung des Generalstabs der RKKA an das ZK VKP (b), Genosse Aleksandrov, weitergeleitet. Erstmals veröffentlicht in der Sonderausgabe der Zeitschrift »Rodina« (wie Anm. 99), S. 45, sowie in Auszügen in GORZKA/STANG: Der Vernichtungskrieg im Osten (wie Anm. 11), S.67f.

127 Aus den Dokumenten des Hauptkommandos der deutschen Streitkräfte für das Jahr 1943/44, wurde von der militärhistorischen Verwaltung des Generalstabs der Streitkräfte der UdSSR an das Parteiarchiv weitergeleitet. RGASPI, f. 71, op. 125, d. 13539, Bl. 10. Rückübers. aus dem Russischen.

128 KOPELEV: Chranit' vecno (wie Anm. 4), russ. S. 127ff.; dt. S. 135.

Männer vor einer deutschen Frau antreten ließ, die ausgestreckt am Boden lag.129 Auch in der Meldung des Leiters der Politischen Abteilung der 8. Gardearmee Generalmajor Skosyrew an den Leiter der Politischen Verwaltung der 1. Weißrussischen Front vom 25. April 1945 geht es um die Haltung der sowjetischen Armeeangehörigen zur deutschen Bevölkerung:

Die Militärkommandeure geben an, daß die Zahl der Plünderungen, Vergewaltigungen und anderer unmoralischer Handlungen von Seiten der Armeeangehörigkeiten in den letzten Tagen stark zurückgegangen ist. Pro Ortschaft werden 2-3 Vorfälle verzeichnet, während derartige Vorkommnisse früher sehr viel häufiger vorkamen.130 •

Der Militärstaatsanwalt der 1. Weißrussischen Front und Generalmajor der Justiz L. Jatschenin erstattete dem Militärrat der Front Bericht darüber, inwieweit die Direktive vom 2. Mai 1945 zur Änderung der Haltung gegenüber der deutschen Bevölkerung befolgt wird:

In der Haltung unserer Armeeangehörigen zur deutschen Bevölkerung ist auf jeden Fall ein bedeutender Umbruch erreicht worden. Die Zahl ungezielter und (grundloser) Erschießungen von Deutschen, von Plünderungen und Vergewaltigungen deutscher Frauen ist erheblich zurückgegangen, dennoch wurden auch nach Erlaß der Direktiven [...] noch einige weitere Vorfälle verzeichnet. Während es Erschießungen von Deutschen inzwischen praktisch nicht mehr gibt und Fälle von Raub nur noch vereinzelt auftreten, kommt es weiterhin zu Vergewaltigungen von Frauen sowie zu Plünderungen, wenn unsere Armeeangehörigen durch verlassene Wohnungen streifen und alle möglichen Sachen und Gegenstände mitnehmen.131

Von Januar bis März 1945 verurteilte die Militäroberstaatsanwaltschaft der UdSSR insgesamt 4148 Offiziere, davon 1089 wegen Amtsvergehen, 548 wegen Raub und Eigentumsvergehen, 114 wegen Roheitsdelikten und Diskreditierung des Ranges sowie 1141 wegen weiterer Vergehen (nicht aufgeführt sind hier »konterrevolutionäre« Akte, Verkehrsdelikte, Ordnungsverstöße und Wehrdienstverweigerung).132 So wurden die oben erwähnten Majore Sljuntjajew und Mubarakow, die im Februar 1945 eine Lettin vergewaltigt und dann ermordet und zur Verwischung ihrer Spuren einen französischen Kriegsgefangenen umgebracht hatten, am 12. März zu zehn Jahren verurteilt; zu Soldaten degradiert, versetzte man sie in ein Strafbataillon.133 Zweifellos hätte man die Situation früher und wirkungsvoller unter Kontrolle bringen können. Aufschlußreiche Fakten über »Beutefieber« vermittelt das Verhör des 1946 verhafteten Generalmajors A. Sidnjew, des ehemaligen Chefs des opera-

129 EBD., russ. S. 126; dt. S. 134.

130 O. A. RZESEVSKIJ: Berlinskaja opemäja 1945 g. Diskussija prvdolzaetsja (Berliner Operation 1945. Die Diskussion wird fortgesetzt). In: Mir istorii (Rossijskij elektronnyj zumal) 2002, Nr. 4.

131 EBD.

132 CA MO, f. 67, op. 12018, d. 89, Bl. 215; auch in KNYSEVSKIJ: Dobyca (wie Anm. 12), S. 120.

133 Bericht des Bevollmächtigten des SNK der UdSSR für die Repatriierung sowjetischer Bürger, Generaloberst F. Golikov an G. M. Malenkov vom 3. April 1945. RGASPI, f. 17, op. 125, d. 314, Bl. 27-28.

tiven Sektors des NKWD-MWD, in Berlin durch Oberstleutnant Putinzew, den Untersuchungsführer des Ministeriums für Staatssicherheit der UdSSR für besonders wichtige Angelegenheiten.

Frage: Nach Ihrer Abreise aus Berlin wurden großangelegte Diebstähle von Wertgegenständen und Gold aufgedeckt, an denen Sie beteiligt waren. Äußern Sie sich dazu.

Antwort: Ehrlich gesagt habe ich schon lange voller Sorge darauf gewartet, daß meine in Deutschland verübten Verbrechen aufgedeckt werden und ich dafür zur Verantwortung gezogen werde. Bekanntlich haben die Truppenteile der Roten Armee bei der Einnahme Berlins große Trophäen erbeutet. In verschiedenen Stadtteilen wurden zuweilen Lager mit Goldgegenständen, Silber, Brillanten und anderen Wertgegenständen entdeckt. Gleichzeitig wurden einige riesige Lager mit kostbaren Fellen, Pelzen, verschiedenen Stoffen, Dessous und vielem anderen Besitz gefunden [...]. Ich muß offen sagen, daß ich zu den wenigen leitenden Mitarbeitern gehörte, die die Möglichkeit gehabt hätten, dafür zu sorgen, daß alle von den sowjetischen Truppen auf deutschem Gebiet erbeuteten Gegenstände bewacht und registriert werden. Allerdings ergriff ich keinerlei Maßnahmen, um die Plünderungen zu unterbinden, und bekenne mich dafür schuldig.

Frage: Haben Sie sich auch selber an Plünderungen beteiligt?

Antwort: Ich gebe das zu.134

Nach der Kapitulation Deutschlands entspannte sich die Situation allmählich. Generalleutnant Galadshew, Leiter der Politverwaltung der 1. Weißrussischen Front, meldete nach Moskau, daß sich die meisten Soldaten und Offiziere zurückhaltend benähmen und sich nicht mehr zu Taten hinreißen ließen, die »zu Beginn der Besetzung Deutschlands durch die Fronteinheiten häufig zu registrieren waren«. Allerdings sah Galadshew dies als Verdienst Stalins und der richtigen Ideologie der Roten Armee an:

Unter den Soldaten hört man oft folgende Ermahnungen: »Genosse Stalin hat befohlen, unsere Haltung gegenüber der deutschen Bevölkerung zu ändern, so darfst auch du keinen Unfug treiben.« Eine solche kameradschaftliche Ermahnung wirkt sich selbst bei Menschen positiv aus, die sich sonst durch Undiszipliniertheit auszeichneten. Die Kraft der Autorität der Weisungen des Genossen Stalin zur Änderung der Haltung gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung ist so groß, daß selbst die Menschen, die durch die Deutschen alles verloren haben - Haus, Eltern, Frau und Kinder - keine Racheakte mehr verüben, die vor der Direktive des Hauptquartiers zu verzeichnen waren. Die Änderung der Haltung gegenüber den Deutschen wird von der Mehrheit der Militärangehörigen als weise und vorausschauende Politik unserer Regierung bewertet, die nicht das Ziel verfolgt, das deutsche Volk auszurotten. Die Menschen begreifen, daß die Ideologie der Roten Armee, die von der Partei Lenins und Stalins geschaffen und erzogen wurde, so ist, daß die Kämpfer der Roten Armee die Zivilbevölkerung nicht drangsalieren dürfen. Sie begreifen,

134 Voennye archivy Rossii. Sbornik dokumentov (MiJitärarchive Rußlands. Dokumentenband). Moskau 1993, S. 197f.

 

daß die Politik gegenüber den Deutschen gegenwärtig notwendig und nutzbringend für uns ist, daß sie die Autorität und die Positionen unseres Landes festigt.135

Gleichzeitig mußte Galadshew zugeben, daß ein »absoluter« Umbruch in der Haltung der Armeeangehörigen gegenüber der deutschen Bevölkerung noch nicht erreicht war. In den Truppeneinheiten gebe es Menschen, die sich nicht mit der veränderten Position gegenüber »den Deutschen« abfinden können. Er begründet dies damit, daß deren Familien

unter den Deutschen und ihren Grausamkeiten gelitten haben, so daß sie glauben, persönliche Rechnungen begleichen zu müssen. Für diese Gruppe der Militäranyhörigen sind Stimmungen wie die folgenden typisch:

Die Deutschen haben mein Haus niedergebrannt und meine ganze Familie umgebracht. Ich habe nichts mehr. Der Krieg ist aus, und ich weiß nicht wohin, wo ich einen vertrauten Ort suchen soll. Ich würde jeden Deutschen töten. Es ist eine Schande, man soll ihnen kein Brot geben. Sollen sie doch alle sterben. Sie haben es verdient.136

Die Frage der Rache spaltete das Offizierskorps. So brachen beispielsweise zwischen Beutehungrigen und jungen Leutnants immer wieder Konflikte aus. Kopelew berichtet über den Streit eines Pionier-Kompanieführers in Neidenburg mit dem Hauptmann eines Beutekommandos:

Wir sind eine sozialistische Armee. Wir sind Internationalisten. Wie darf man von Rache an den Deutschen sprechen? Das ist nicht unsere Ideologie - sich an einem Volk zu rächen. Was sagte Genosse Stalin? »Die Hitler kommen und gehen ...« Kommen Sie mir nicht mit Ehrenburg, der ist kein Marxist. Ich habe von klein auf gelernt: Alle Werktätigen aller Länder sind Brüder. Marx und Engels waren auch Deutsche, auch Liebknecht, auch Thälmann, und es gibt auch heute deutsche Kommunisten und Arbeiter und Bauern und ganz einfache, anständige Menschen. Es ist ja unmöglich, daß ein ganzes Volk aus Faschisten besteht. So was können nur die Faschisten selber behaupten ...137

Kopelew stand auf der Seite des jungen Kompanieführers; er selbst sah sich immer wieder gezwungen, Verbrechen Einhalt zu gebieten und gegen die »Racheideologie« anzukämpfen. Allerdings wurde er im April 1945 aus der Partei ausgeschlossen, weil er angeblich »bürgerlichen Humanismus und Mideid mit dem Feind« propagiert hatte, und anschließend nach Artikel 58 des Strafgesetzbuches wegen »antisowjetischer Agitation und Propaganda« verhaftet wurde. Unverhohlene Sorge und Scham um das Ansehen der Roten Armee hatte einen seiner Kollegen zu folgender Meldung an den Vorgesetzten veranlaßt:

135 Bericht des Leiters der Politverwaltung der 1. Weißrussischen Front Generalleutnant Galadzev an den stellvertretenden Leiter der Politischen Hauptverwaltung der RKKA Generalleutnant Sikin vom 31. Mai 1945 »Über die Haltung der Armeeangehörigen gegenüber der deutschen Bevölkerung«. Deutsch in RÜRUP (Hrsg.): Der Krieg gegen die Sowjetunion (wie Anm. 60), S. 258ff.

136 EBD.

137 KOPELEV: Cbranit' vecno (wie Anm. 4), russ. S. 98; dt. S. 105.

[Kopelew] weinte vor Mitleid mit den Deutschen, sagte, Genosse Stalin sei über die Lage nicht informiert, sei zu beschäftigt mit internationalen Angelegenheiten. Er nannte unsere Armee eine Machno-Bande und beschimpfte in nicht wiederzugebenden Ausdrücken die militärische und die politische Führung und den Genossen Ehrenburg.138

So widersprüchlich und tragisch war das Schicksal der verschiedenen Vertreter des Offizierskorps der Roten Armee. Der Prozeß gegen Generalmajor Sidnjew (ebenso wie die Achtung Georgij Shukows nach dem Krieg, die Verurteilung von Generalleutnant K. Telegin, die Anschuldigungen gegen Iwan Serow sind bezeichnend für das Los derjenigen »hochkarätigen Marodeure«, die zur Verantwortung gezogen wurden, weil Stalin, der über diese Neigungen seines Umfelds informiert war, sich die deutschen >Episoden< für seine politischen Intrigen der Nachkriegszeit zunutze machte. Pawel Knyschewskij vertritt die Auffassung, daß es im geheimen Staats-kartenspiel der >Aneignung von Beutegut< zahlreiche »unwiderstehliche Trümpfe« gab.139 Kopelew wurde einerseits zum Opfer der Doppelmoral, andererseits setzte sein Fall ein Signal, das Thema Verbrechen in Deutschland abzuschließen.

(Aus dem Russischen von Beate Jasper-Volovnikov)

138 EBD., russ. S. 129; dt. S. 138.

139 KNYSEVSKIJ: Dobyca (wie Anm. 12), S. 129.